Die Energiewende muss schneller voranschreiten. Und die EU sollte der Welt zeigen, dass dies möglich ist – und zwar „ohne Wirtschaft und Gesellschaft zu überfordern“. Das ist der Tenor einer Stellungnahme, die mehrere deutsche Wissenschaftsakademien veröffentlicht haben. Die Forscher fordern damit die Bundesregierung auf, die turnusmäßige EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands (1. Juli bis 31. Dezember 2020) zu nutzen, um die Energiewende in der Europäischen Union voranzutreiben.
Das Prinzip der Technologieoffenheit solle dabei auch weiterhin gelten, um übereilte Festlegungen auf suboptimale Lösungen zu vermeiden. Dies sei besonders wichtig, da Investitionen in Industrie und Infrastruktur auf Jahrzehnte getätigt werden. „Was heute gebaut wird, wird im Jahr 2050 noch in Betrieb sein“, heißt es. Gerade deshalb sei es wichtig, weitsichtig zu investieren, nämlich in solche Anlagegüter, „die entweder bereits heute Treibhausgas-neutral betrieben werden können oder später auf klimaneutrale Betriebsweisen (beispielsweise durch erneuerbare Energieträger) umgestellt und so an die strenger werdenden Klimaschutzziele angepasst werden können“.
Gleichzeitig warnen die Wissenschaftler davor, Investitionen ewig aufzuschieben, um immer neue Innovationen abzuwarten. Damit würde man auf etwas warten, dass es ohnehin nicht geben könne: „Eine statische optimale Lösung gibt es aufgrund des sich stetig wandelnden technologischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfelds nicht.“
Stattdessen müssten ausgereifte Lösungen entschlossen umgesetzt werden – die Verfasser sprechen von „No-Regret-Maßnahmen“. Dazu zählen sie insbesondere Wind- und Solarenergie-Anlagen sowie den für ihre Nutzung erforderlichen Netzausbau. Aber auch Pilotanlagen für die Wasserstoffnutzung sollten zügig in Betrieb genommen werden, „da Wasserstoff eine wesentliche Rolle in zukünftigen Energiesystemen spielen“ müsse.
In der Stahl-, Chemie- und Zementindustrie bestehe in diesem Jahrzehnt beispielsweise ein Reinvestitionsbedarf von 30 bis 60 Prozent. Dieser müsse genutzt werden, um die Branchen auf eine nachhaltige Zukunft einzustellen. Genutzt werden müssten auch die Konjunkturgelder, mit denen die Regierungen die Folgen der Corona-Krise für die Wirtschaft abfedern wollen.
Auf politischer Ebene müsse die EU kohärente, gemeinschaftliche Strategien erarbeiten: So sollten bereits heute die Weichen für ein „transeuropäisches Energiesystem“ gestellt werden, um Standortvorteile für Gewinnung und Verbrauch von Energie auszuschöpfen. Um die Wirtschaft auf das entsprechende Gleis zu bringen, seien „effektive und kosteneffiziente Anreizsysteme“ nötig.
Als wichtigstes Instrument dafür sehen die Wissenschaftler eine „sektor-, regionen-, akteurs- und technologieübergreifende“ CO2-Bepreisung. Eine Möglichkeit sei die Ausweitung des bestehenden EU-ETS, damit sei bereits ein „funktionsfähiges Instrument etabliert und erprobt, das bereits etwa 45 Prozent der Treibhausgasemissionen der EU erfasst“. Der EU-Emissionshandel solle „möglichst weit vor dem Jahr 2030“ auf die Sektoren Wärme und Verkehr erweitert werden. Einnahmen aus der Versteigerung von Zertifikaten könnten die Mitgliedstaaten für soziale Ausgleichszahlungen verwenden. Statt dieses mengenbasierten Zertifikatehandels könne auch eine preisbasierte Abgabe erfolgen. Welche Option zur CO2-Bepreisung genutzt werde, sei „aus volkswirtschaftlicher Sicht zweitrangig“.
Die vollständige Stellungnahme „Energiewende 2030: Europas Weg zur Klimaneutralität“ der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) und der Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften finden Sie hier.
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