Für das Gelingen der Energiewende müssen Stromtrassen deutlich schneller als bisher gebaut werden, die Bundesregierung will deshalb die gesetzlichen Rahmenbedingungen ändern. Grund genug für den en:former, das Thema aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Die Serie Netzausbau beleuchtet technische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen sowie Initiativen und Innovationen, um diese zu bewältigen. Los geht es mit einer Bestandsaufnahme.
Wenn die Länge eines Wortes das Ausmaß der Herausforderung andeutet, dann ist der Name „Netzausbaubeschleunigungsgesetz“ gut gewählt. Es ist seit August 2011 in Kraft und soll diesen Herbst überarbeitet werden. Dafür ist es höchste Zeit: Die bisherige Fassung hat ihre gewünschte Wirkung nicht entfaltet. So viel ist Konsens. Der Netzausbau stockt, obwohl er dringend nötig ist.
Allein 2017 haben die Unterkapazitäten der deutschen Übertragungsnetze 1,5 Milliarden Euro gekostet. Diese Ausgaben entstehen zum Beispiel beim sogenannten „Redispatch“. Dabei müssen die Netzbetreiber die ursprünglich geplanten Energielieferungen kurzfristig umstellen, weil unerwartete Über- oder Unterkapazitäten innerhalb regionaler Netze auftreten. Am häufigsten ist das der Fall, wenn die immensen Windkraftkapazitäten in Nord- und Ostdeutschland dank kräftiger Böen besonders viel Strom erzeugen.
Die Stromerzeugung übersteigt dann regelmäßig den dortigen Bedarf. Strom muss in andere regionale Netze abgeleitet werden. Gebraucht werden könnte die Energie durchaus – vor allem in den industrie- und bevölkerungsreichen Regionen im Süden und Westen entlang des Rheins und in Bayern. Allerdings lassen die derzeitigen Netzkapazitäten keinen solchen Stromtransfer in größeren Mengen zu.
Ein Ausweg: Teilweise kann der überschüssige Strom in Nachbarländer exportiert oder über deren Trassen Richtung Süddeutschland geleitet werden. Doch immer häufiger verhindern die dortigen Netzbetreiber das, weil auch ihren Netzen der Kollaps droht.
In solchen Situationen müssen die Übertragungsnetzbetreiber dafür sorgen, dass Kraftwerke im Norden und Osten der Republik gedrosselt werden, damit die Netze dort nicht zusammenbrechen. Gleichzeitig müssen Kraftwerke im Süden hochgefahren werden, um den dortigen Bedarf zu decken.
Der Redispatch betrifft in erster Linie konventionelle Kraftwerke, weil regenerativ erzeugter Strom Vorrang hat, jedoch in den meisten Fällen nicht nach Belieben hochgefahren werden kann. Nur in Extremfällen müssen auch regenerative Erzeuger ihre Einspeisung absenken.
Die Betreiber der gedrosselten Anlagen erhalten dann Ausgleichszahlungen für entgangene Einnahmen. Im Endeffekt zahlen Stromkunden also nicht nur für den Strom, den sie verbrauchen, sondern auch für den, der überhaupt nicht produziert wurde. Und all das, weil die Übertragungsnetze zu schwach sind.
Für das erste Halbjahr 2018 haben die vier Betreiber der deutschen Übertragungsnetze zwar verglichen mit 2017 einen Rückgang dieser Noteingriffe registriert. Sie warnen aber davor, dies als Trendwende zu verstehen und mahnen weiteren Handlungsbedarf an. Wie viel Übertragungskapazität letztlich hinzukommen muss, wird maßgeblich vom Ungleichgewicht der Speicher- und Erzeugungsleistung zwischen den Regionen abhängen.
In der Vergangenheit wurde der Bedarf tendenziell eher unterschätzt. 2010 korrigierte die Deutsche Energie-Agentur dena ihre eigene Prognose von 2005 kräftig nach oben: Statt 850 Kilometern zusätzlichen Bedarfs an Höchstspannungsleitungen (rund 400 Kilovolt) bis 2020 waren nun plötzlich satte 4.450 Kilometer nötig. Das BMWi spricht inzwischen von 7.500 Kilometern, die „im Übertragungsnetz optimiert, verstärkt oder neu gebaut“ werden müssen.
Ein ähnlicher Wert findet sich in der Bilanz zum zweiten Quartal der Bundesnetzagentur, die von nunmehr 7.700 Trassenkilometer ausgeht. Von denen sind bisher 1.750 Kilometer genehmigt, rund 950 Kilometer davon wurden bereits realisiert, 25 Kilometer zwischen April und Juni 2018. Ginge es in diesem Tempo weiter, wäre der heutige Bedarf an Zubau im Jahre 2085 gedeckt.
Übertragungsnetzbetreiber betreiben das Hochspannungsübertragungsnetz in Deutschland
beträgt die Gesamtlänge der großen Übertragungsnetze in Deutschland
prognostizieren die Netzbetreiber für Investitionen in das deutsche Übertragungsnetz (On- und Offshore) bis 2030
Während sich der mutmaßliche Bedarf immer weiter erhöht hat, hat sich das Tempo des Netzausbaus sogar noch verlangsamt. Das schreibt das Institut der deutschen Wirtschaft Köln in einer aktuellen Studie zum Stand der Energiewende. Ein Grund dafür: Seit 2010 haben es nicht einmal 40 Prozent der Trassenkilometer durch die Genehmigungsverfahren geschafft, die vor acht Jahren als Bedarf ermittelt wurden. In einem kürzlich erschienenen Artikel des Fachmagazins „Energiepolitische Tagesfragen“ resümieren Harald Schwarz und Klaus Pfeiffer von der Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg: „Durch komplexe Genehmigungsverfahren, Bürgerbeteiligungen und Klageverfahren läuft der Netzausbau in Deutschland nur sehr schleppend.“
Genau hier will die Bundesregierung nun einhaken. Im jüngst veröffentlichten „Aktionsplan Stromnetz“ kündigt das Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) schnellere Verfahren an, um den so wichtigen Netzausbau endlich voranzutreiben.
In der Serie „Netzausbau“ beleuchtet der en:former technische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Herausforderungen sowie Initiativen und Innovationen, um diese zu bewältigen. Der nächste Teil widmet sich der europäischen Perspektive auf den Stand des Netzausbaus. Welche technischen Möglichkeiten und Innovationen es für den Netzausbau gibt und warum Genehmigung und Bau neuer Stromtrassen so lange dauern, hinterfragt der en:former in weiteren Teilen der Serie.
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