Schmalere Trassen, mehr Kapazität, weniger Energieverlust – das ist das Versprechen der Entwickler von so genannten Supraleitern. Der deutsche Energiekonzern RWE und der französische Kabelhersteller Nexans gehören zu den Pionieren dieser Technologie. Ein Praxistest in Essen war bereits erfolgreich. Zwei Systeme stehen kurz vor der Marktreife. Und wie es aussieht, werden sie nicht einmal teurer sein als herkömmliche Alternativen.
In Essen sind Supraleiter bereits Alltag. Ganz genau handelt es sich um EIN Supraleiterkabel. Dies verrichtet seit nunmehr viereinhalb Jahren seinen Dienst im Verteilnetz der Essener Innenstadt. Der dort ansässige Energieversorger RWE hat es 2014 unter dem Projektnamen AmpaCity in den Testbetrieb genommen. Seitdem verbindet das – mit einem Kilometer – längste Supraleiterkabel der Welt zwei Umspannanlagen im Nordwesten der Stadt. „Mittlerweile ist AmpaCity integraler Bestandteil des Essener Verteilnetzes und wird behandelt wie jedes andere Kabel auch“, sagt Gesamtprojektleiter Frank Merschel von der innogy SE, der das Verteilnetz mittlerweile gehört.
Bei Hochspannungskabeln brauchen wir eine Station von der Größe einer Turnhalle, bei Supraleitern genügt eine Doppelgarage. Frank Merschel, Gesamtprojektleiter AmpaCity, innogy SE
AmpaCity kann dieselbe Menge Strom transportieren wie die ehemalige Hochspannungsleitung, die es im Netz der Ruhrgebiets-Metropole ersetzt. Der Vorteil: Im Supraleiter fließt der Strom auf der Mittelspannungsebene. Dadurch wird der riesige Transformator überflüssig, der den Strom von 110 Kilovolt (kV) auf 10 kV herunterspannt. Die Endverschlüsse der Supraleiter und die weiteren Komponenten des Systems, mit denen der Strom zu den Kunden geleitet wird, sind deutlich kleiner: „Bei Hochspannungskabeln brauchen wir eine Station von der Größe einer Turnhalle, bei Supraleitern genügt eine Doppelgarage“, weiß Merschel. Das ist gerade in dichtbebauten Gegenden wie Innenstädten von immensem Vorteil. Um die 750.000 Einwohner in Essen und der Nachbarstadt Mühlheim zu versorgen, hat der Betreiber des Verteilnetzes, die Westnetz, allein rund 50 solcher „Turnhallen“-Stationen installiert.
Das Geheimnis der Supraleiter ist die Temperatur. 1911 fand der Niederländer Heike Kamerlingh Onnes heraus, dass der elektrische Widerstand einiger Materialien bei extremer Kälte abrupt auf null springt. Zumeist liegt diese „Sprungtemperatur“ nahe dem absoluten Nullpunkt von 0 Grad Kelvin, also -273,15 Grad Celsius. Erste richtungsweisende Forschungsergebnisse zum Supraleiter lieferten in den 1980er-Jahren die deutschen Forscher Karl Alexander Müller und Johannes Georg Bednorz. 1987 wurden sie dafür mit dem Nobelpreis für Physik ausgezeichnet.
Da solch niedrige Temperaturen nur unter Laborbedingungen erreicht werden, haben Forscher immer wieder nach Materialien mit höheren Sprungtemperaturen – sogenannten „Hochtemperatur-Supraleitern“ (HTS) – gesucht. Und man hat sie gefunden.
Die Keramiken, die in den AmpaCity-Kabeln verbaut sind, entfalten ihre Supraleitfähigkeit „schon“ bei 70 Grad Kelvin, also -200 Grad Celsius. Um diese Temperatur zu erreichen, werden die Kabel mit einer isolierenden Hülle ummantelt, die flüssigen Stickstoff führt. Die dafür benötigten Kühlsysteme und Pumpen passen zusammen mit dem Trafo in die bereits erwähnte „Doppelgarage“.
Unter den metallischen Supraleitern ist Magnesiumdiborid (MgB2) der mit der höchsten bisher bekannten Sprungtemperatur. Sie liegt bei rund 39 Grad Kelvin, -234 Grad Celsius. Supraleiter aus Magnesiumdiborid haben eine ganze Reihe von Vorteilen gegenüber denen aus Keramik, sagt Dr. Adela Marian vom Potsdamer Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS): „Die Rohstoffe Magnesium und Bor sind besser verfügbar, die Herstellung ist einfacher, die Kabel sind robuster.“
Die MgB2-Kabel sind deshalb deutlich kostengünstiger herzustellen als diejenigen, die in AmpaCity eingesetzt werden. Auf der anderen Seite ist aber die Kühltechnik teurer: „50 Grad kälter – das macht einen erheblichen Unterschied“, erklärt Marian und stellt klar: „Supraleiter aus Keramik sind perfekt für die Stromstärke und die Spannung in Verteilnetzen. Bei uns geht es um Übertragungsnetze.“
Marian hat MgB2-Supraleiter im Rahmen der EU-Initiative „Best Paths“ erforscht. Bei ihr, als wissenschaftliche Koordinatorin, liefen die Fäden aus den beteiligten Forschungsinstituten und Unternehmen zusammen. Im September 2018 endete das Projekt. Das Ergebnis ist laut Marian sehr vielversprechend: Die Kollegen des CERN in der Schweiz hätten gezeigt, dass die Supraleiter extrem starken Strom verlustfrei transportieren können. Der französische Kabelhersteller Nexans hat an seinem Standort in Hannover die Übertragung unter Höchstspannung getestet – ebenfalls mit Erfolg.
Nur die Kombination aus beidem – Hochstrom und Höchstspannung – wurde bisher nicht erprobt: 320 kV bei 10 Kiloampere (kA), das entspricht 3,2 Gigawatt (GW), dem Bedarf von 3,2 Millionen Menschen. So viel Strom, könne man nicht mal eben zu Testzwecken abzweigen, sagt Marian. Sicher ist sich die Forscherin dennoch: „Schon ein fingerdickes Kabel genügt, um diese Leistung zu übertragen.“
Wie bei anderen Erdkabeln spielt auch bei Supraleitern die elektromagnetische Strahlung, die von Freileitungen ausgeht, praktisch keine Rolle. Ihre kompakte Bauweise hat – auch gegenüber anderen Erdkabeln – Vorteile für die Umwelt: Eine 10-GW-Leitung mit zwei Kabeln benötigt einen Korridor von nur einem Meter. Herkömmliche Trassen dieser Größenordnung sind zehn Meter breit. Auch die latente Erwärmung des Bodens entfällt, die Höchstspannungs-Erdkabel sonst erzeugen.
„Das verspricht erhebliche Akzeptanzvorteile“, vermutet Adela Marian. Supraleiter könnten den Übertragungsnetzausbau also deutlich beschleunigen. Seit Jahren formiert sich in vielen Ländern Protest, wenn Trassen gebaut werden sollen. In Frankreich, so die IASS-Expertin, würden deshalb neue Übertragungsleitungen praktisch nur noch unterirdisch verlegt.
Kritiker weisen allerdings darauf hin, dass der Wasserstoff, mit dem vor allem sehr lange MgB2-Kabel gekühlt werden sollen, explodieren kann – wenn er plötzlich mit Luft in Verbindung kommt. „Das ist natürlich richtig“, räumt Marian ein, „aber ganz Europa ist von einem Gasnetz durchzogen. Und das Erdgas darin ist nicht weniger explosiv.“
Leistungsfähiger, kompakter und umweltfreundlicher – was hält die Netzbetreiber also noch ab? Tatsächlich seien viele Übertragungsnetzbetreiber an der Technologie interessiert, unterstreicht Marian. Der größte in der Europäischen Union, der französische Monopolist RTE, war sogar Partner des Forschungsprojektes. Eine sozio-ökonomische Berechnung im Auftrag von RTE hat ergeben, dass die Kosten sogar unter denen herkömmlicher Erdkabeltrassen liegen könnten.
Übertragungsnetzbetreiber haben jedoch lange Investitionszyklen. Und eine Fehlinvestition dieser Größenordnung kann dramatische Folgen haben. Marian: „Politische Anreize könnten die Netzbetreiber dazu bringen, die Technologie in der Praxis, also im elektrischen Netz, zu testen und einzusetzen.“
Das Problem der fehlenden Praxistests haben die keramikbasierten Supraleiter nicht mehr. „Die technische Funktionalität haben wir nachgewiesen, nun müssen wir die ökonomische Machbarkeit zeigen“, sagt AmpaCity-Projektleiter Merschel. „Und das ist so eine Henne-Ei-Geschichte.“ Was Merschel meint: Nur bei großer Nachfrage werden die potenziellen Hersteller in entsprechende Produktionsanlagen investieren. Und erst dann werden sie HTS-Systeme zu konkurrenzfähigen Preisen anbieten können. Aber erst wenn die Preise attraktiv sind, verlassen die Netzbetreiber ihre Position des interessierten Beobachters.
Immerhin: Einige deutsche Großstädte haben laut Merschel bereits Interesse an der HTS-Technologie bekundet.
In der nächsten Folge der Serie „Netzausbau“ lassen wir den internationalen Blick schweifen und erkunden, welchen Herausforderungen andere EU-Länder beim Netzausbau begegnen.
Bildnachweis: AmpaCity, Innogy SE; KittyVector, shutterstock.com