Der Ausbau der Stromnetze hinkt den Plänen um etliche Jahre hinterher. Und nun haben die Übertragungsnetzbetreiber ihre Bedarfsprognose erneut erhöht. Immerhin kommt die Bautätigkeit mittlerweile in Fahrt. Ralf Schlosser ist einer der ersten, die das mitbekommen. Schlosser verantwortet bei SPIE, dem europäischen Marktführer für multitechnische Dienstleistungen in den Bereichen Energie und Kommunikation, die deutschlandweite Errichtung von Hochspannungsleitungen.
Für unsere Serie Netzausbau hat er dem en:former die technischen Seiten des Leitungsbaus erklärt. Und: Wie SPIE und der Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz die Akzeptanz für Freileitungen erhöhen wollen.
en:former: Herr Schlosser, die Übertragungsnetze sind die Schlagadern der Stromversorgung. Aber Hochspannungsleitungen wirken nicht gerade wie Hightech-Anlagen. Leitungsbau – das klingt nach Mast aufstellen, Seile aufhängen, Trafo dran, fertig. Ist es so einfach?
Ralf Schlosser: Leitungsbau ist sicher ein eher bodenständiges Geschäft: Es hat viel mit Montage, Mechanik und Bautechnik zu tun. Als Bauwerke sind Strommasten allerdings komplexer, als sie wahrscheinlich wirken: Je nach Anforderungen kommen unterschiedliche Mast-Typen zum Einsatz. Auch das Fundament muss individuell berechnet werden. Und für die Errichtung benötigen wir entsprechende Zufahrtswege, die je nach Gelände mit großem Aufwand geschaffen werden müssen.
Wovon hängt es denn ab, welchen Mast-Typen man wählt?
Die Kunden geben in ihrer Ausschreibung unter anderem den Trassenverlauf vor und damit ergibt sich, wie hoch und breit die Masten sein dürfen und welche Kräfte sie zu tragen haben. Danach entwickeln wir dann normalerweise eine Mast-Familie, die wie ein Baukastensystem funktioniert, aus dem man die erforderlichen Masten je nach Leitungsverlauf auswählt.
Wie beeinflusst die Topografie die Wahl des Mastes?
Auf einem Höhenzug zum Beispiel werden Masten tendenziell etwas niedriger gebaut, um den Höhenunterschied zu den Masten im Tal etwas auszugleichen. Der Mast auf dem Berg könnte den Mast im Tal gewissermaßen über die Zugspannung des Leiterseils anheben. Zugkräfte muss man aber natürlich auch in der Ebene berücksichtigen – insbesondere, wenn die Leitung nicht gerade verläuft. Und gerade Verläufe sind in Deutschland eher die Ausnahme.
Berücksichtigen Sie auch Klimaveränderungen?
Deutschland wird schon lange in verschiedene Wind- und Eislastzonen eingeteilt, und die haben sich in den letzten Jahren verändert, die Anforderungen haben sich erhöht. Entsprechend legen wir die Systeme mittlerweile stärker aus, teilweise sogar etwas stärker als derzeit erforderlich. Hitze ist weniger ein Thema. Die Leiterseile, also die einzelnen Leitungsstränge, erwärmen sich ja auch durch den Stromfluss. Dann hängen sie etwas stärker durch, und das berücksichtigen wir ohnehin.
Was bereitet ihnen denn die größten Probleme beim Leitungsbau?
Deutschland ist ja sehr dicht besiedelt. Wir müssen bestimmte Mindestabstände zu bebautem Gebiet einhalten. Und zwar nicht nur beim Verlauf der Leitungen, sondern auch während der Bauarbeiten. Da müssen wir Lärmvorgaben und allerlei andere Standards berücksichtigen, um die Anwohner so wenig wie möglich zu belasten, aber auch um Naturschutzauflagen zu berücksichtigen.
Wie geht der Netzausbau momentan voran?
Ich bin seit 2012 im Leitungsbau tätig, und schon damals haben wir auf die Genehmigung beantragter Trassen gewartet. Stark zugenommen hat die Bautätigkeit erst vor zwei, vielleicht drei Jahren. Seit gut einem Jahr nimmt die Nachfrage extrem zu, sodass es in der ganzen Branche zu Ressourcenengpässen kommt. Das Schöne daran ist, dass wir merken: Die Energiewende findet nun deutlicher statt.
Angesichts des Genehmigungsstaus: Wäre es nicht einfacher, den Leitungsverlauf den Wünschen der Bürger anzupassen?
Politik und Netzbetreiber versuchen mit den Betroffenen sehr stark zu kommunizieren, wieso eine Leitung in einer bestimmten Form und mit einem bestimmten Verlauf gebaut werden soll. Aber trotzdem gibt es immer wieder Einsprüche, und – je nach Fall – wird der Leitungsverlauf auch geändert. Achten Sie allein mal darauf, dass Freileitungen häufig die Autobahn kreuzen. Das hat sicher nicht immer topografische Gründe, sondern ergibt sich oft auch aus den Genehmigungsverfahren.
Warum baut man die Leitungen nicht direkt über den Autobahnen?
Technisch wäre das durchaus möglich. Mit Strommasten zwischen den beiden Richtungsfahrbahnen würde man die Fläche besser nutzen. Aber das würde nicht nur den Bau komplizierter machen. Auch Wartungs- und Instandhaltungsarbeiten müssten aufwendig gesichert werden. Es darf ja nicht einmal eine Schraube auf die Fahrbahn fallen. Vor allem aber wäre ein ganz wesentlicher Punkt bei der Akzeptanz für den Netzausbau damit nicht gelöst: Wen die Optik der Freileitung stört, den stört sie auch über der Autobahn.
Eine Lösung dafür sind Erdkabel …
Erdkabel haben sicher eine höhere Akzeptanz als Freileitungen, allein weil man sie nicht sieht. Allerdings kommen Landwirte mit Freileitungen besser klar, weil der Einfluss der Erdkabel auf ihren Ertrag schwer absehbar ist. Für Freileitungen sprechen auch der niedrigere Preis und der geringere Wartungsaufwand. Das ist nicht nur ein langfristiger Kostenfaktor: Fehler lassen sich sehr einfach und schnell beheben. Das verbessert auch die Sicherheit des Netzes und der Stromversorgung.
Sie haben gemeinsam mit dem Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz eine technische Lösung für mehr Akzeptanz entwickelt.
Genau, die compactLine: Wir haben mit unserem Kunden 50Hertz ein Forschungsprojekt aufgelegt, aus dem eine knapp zwei Kilometer lange Pilotleitung in Sachsen-Anhalt entstanden ist, die deutlich flacher ist als herkömmliche Freileitungen. Die Masten sind etwa 30 Meter statt 50 bis 60 Meter hoch. Und die Trassen sind sogar etwas schmaler, so dass wir eine Höchstspannungsleitung mit 400 Kilovolt im Korridor einer herkömmlichen 220-Kilovolt-Leitung bauen können.
Um die Höhe zu reduzieren und den Mindestabstand zum Boden zu halten, hängen wir die Leiterseile an sehr straff gespannten Trägerseilen aus dem Seilbahnbau auf. Das Ganze hängen wir auf sehr kompakten Vollwandmasten auf.
Das klingt sehr solide, nicht nach Rocket-Science. Spiegelt sich das auch in den Kosten der compactLine wider?
Wir haben bewährte Komponenten aus verschiedenen Bereichen zusammengetragen und daraus etwas Neues geschaffen. Die Kosten für die compactLine werden irgendwo zwischen herkömmlichen Freileitungen und Erdkabeln liegen. Wo genau, das hängt letztlich von der gebauten Anzahl bzw. Leitungslänge ab.
Ist die compactLine die Lösung für den Netzausbau?
Die technische Umsetzung ist einwandfrei gelaufen, die Pilotanlage ist seit August 2018 am Netz. Das zeigt auch, wie sorgfältig geforscht wurde. Außerdem hat eine begleitende Studie gezeigt, dass die Akzeptanz für die compactLine bei den meisten Menschen größer ist als bei normalen Freileitungen. Alles weitere muss sich zeigen.
Die Erfolgsgeschichte von SPIE reicht zurück in das Jahr 1900: Das Unternehmen wurde gegründet, um die Elektrifizierung der Pariser Métro zu gewährleisten. In den vergangenen Jahren hat sich SPIE kontinuierlich weiterentwickelt und ist heute der unabhängige europäische Marktführer für multitechnische Dienstleistungen in den Bereichen Energie und Kommunikation mit mehr als 46.400 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. SPIE zählt in Deutschland zu den führenden Dienstleistern und Systemanbietern in den Bereichen Anlagenbau und Infrastruktur. Kunden sind in diesem Bereich Netzbetreiber, Energieversorger sowie Stadtwerke, Kommunen und Industrieunternehmen.
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