Das Vereinigte Königreich, normalerweise ein Nettoimporteur von Erdgas und Strom (Link in Englisch), spielte im Jahr 2022 eine gegenteilige Rolle in der europäischen Energiebilanz. Dafür gibt es zwei Ursachen: Die Folgen des Kriegs in der Ukraine und die gesunkene Stromerzeugung der Kernkraftwerke in Frankreich.
Zwar gilt das Vereinigte Königreich hinter Norwegen als zweitgrößter Erdgas-Förderer Europas, dennoch hängt es von Importen ab, um die eigene Nachfrage zu decken. Die inländische Förderung erreichte bereits im Jahr 2000 ihren Höhepunkt. Obwohl seitdem auch die Nachfrage zurückgegangen ist, hat der Rückgang der einheimischen Förderung wiederum zu einem Anstieg der Nettoeinfuhren geführt.
Erdgas wird im Vereinigten Königreich vielfältig genutzt, insbesondere zur Stromerzeugung, zum Heizen und in der Industrie. Die Nachfrage schwankt saisonal, normalerweise wird Erdgas im Sommer auf das europäische Festland exportiert, während es im Winter importiert wird.
Jedoch verfügt das Vereinigte Königreich über mehr Kapazitäten für den Import von Gas als es benötigt.
Es hat drei Terminals für die Einfuhr von verflüssigtem Erdgas (LNG), Dragon LNG, Grain LNG und South Hook. Die jährliche Gesamtkapazität liegt bei 49,2 Milliarden Kubikmetern (m³). Darüber hinaus verfügt die Langeled-Pipeline aus Norwegen über eine Kapazität von 25,2 Milliarden m³ pro Jahr, während andere Verbindungen zu norwegischen Gasfeldern über die FLAG- und Vesterled-Pipelinesysteme ebenfalls norwegische Gasimporte ermöglichen.
Darüber hinaus ist das Vereinigte Königreich über bidirektionale Pipelines, über die Ausfuhren von etwa 5,5 Milliarden m³ pro Jahr bzw. 20 Milliarden m³ pro Jahr abgewickelt werden können, mit den Niederlanden und Belgien verbunden. Das Land kann somit als flexibles Transitland für importiertes Gas fungieren und kann es über seine Pipelineverbindungen mit nach Kontinentaleuropa fließen lassen.
Im zweiten Quartal 2022 stiegen die britischen LNG-Importe um 37 Prozent (Link in Englisch), die Gasexporte nach Kontinentaleuropa erreichten ein Rekordhoch. Damit spielte das Vereinigte Königreich eine Schlüsselrolle beim Aufbau der europäischen Gasvorräte vor dem Winter.
Da Europa mit einer schweren Gasversorgungskrise zu kämpfen hat, fließt auch in den kälteren Monaten weiterhin Gas aus dem Vereinigten Königreich auf den europäischen Kontinent. Anfang Dezember erreichten die Gasströme über die Verbindung zwischen Großbritannien und Belgien einen Sechsjahreshöchststand (Link in Englisch).
Große Veränderungen sind auch bei den Stromflüssen zwischen dem Vereinigten Königreich und europäischen Ländern sichtbar. Zu den bestehenden Stromverbindungsleitungen mit Irland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Norwegen sollen weitere gebaut werden.
In der Regel gilt das Vereinigte Königreich als Nettoimporteur von Strom. Normalerweise ist dieser nach Irland exportiert und aus Frankreich, den Niederlanden und Belgien importiert worden. Mit der im Oktober 2021 fertiggestellten Verbindungsleitung North Sea Link fließt nun auch Strom aus Norwegen nach Großbritannien.
Während im zweiten Quartal 2021 4,5 Terawattstunden (TWh) aus Frankreich, 0,35 TWh aus den Niederlanden und 1,9 TWh aus Belgien importiert wurden, drehte sich im zweiten Quartal 2022 die Situation vollständig um: Großbritannien exportierte in eben jene Länder 3,4, 0,8 und 0,41 TWh.
Diese Entwicklung ist in erster Linie eine Folge der geringen Stromerzeugung aus Kernenergie in Frankreich, wo viele Reaktoren vom Netz gegangen sind. Da Frankreich dadurch jetzt weniger Strom in seine Nachbarländer exportiert, mussten auch Belgien und die Niederlande mehr Strom aus dem Vereinigten Königreich einführen.
Darüber hinaus helfen Stromimporte aus dem Vereinigten Königreich den europäischen Ländern, Erdgas einzusparen. Denn diese müssen so weniger Gas zur Stromerzeugung verwenden. Im Oktober setzten sich die britischen Exporte nach Frankreich fort, während sich die Stromflüsse nach Belgien und in die Niederlande wieder normalisierten.
Interkonnektoren sind auch von ökonomischer Relevanz, denn sie verbinden Märkte miteinander. Daraus folgt, dass Strom beziehungsweise Erdgas aus Märkten mit niedrigen Preisen in Märkte mit höheren Preisen fließen. Dies führt dazu, dass sich die Preise zweier Märkte aneinander angleichen. Anhaltende Preisunterschiede würden dann darauf hinweisen, dass die Verbindungskapazitäten noch begrenzt sind.
Verbindungsleitungen haben also den Vorteil, dass über sie bei Bedarf zusätzlicher Strom und zusätzliches Gas importiert werden können. Allerdings gibt es auch einen Nachteil: Sie setzen einen Markt den Schwankungen von Angebot und Nachfrage eines anderen Marktes aus.
Die Effekte dieser Dynamik ließen sich in Großbritannien im Dezember 2022 beobachten. So importierte das Land so viel LNG, dass vorübergehend ein Überschuss erzeugt wurde, welcher größer als die Exportkapazität nach Belgien und in die Niederlande war.
Die aktuellen Entwicklungen der Energiemärkte deuten darauf hin, dass das Vereinigte Königreich noch einige Zeit seine Rolle als Erdgastransitland behalten könnte. Die europäischen Länder müssen nämlich weiterhin die gestoppten russischen Gasimporte kompensieren und benötigen noch Zeit, um ihre Energiesysteme umzustellen.
Langfristig wird diese Rolle wahrscheinlich wieder an Bedeutung verlieren, da Europa bis 2050 ein klimaneutrales Energiesystem etablieren will. Ein Ziel, das Großbritannien mit seinen EU-Nachbarn teilt. Was aber übrig bleiben könnte, ist die Infrastruktur der Erdgaspipelines. Denn diese ließe sich für den Handel mit erneuerbaren Gasen umrüsten.
Die Stromexporte werden in dieser Form voraussichtlich nur so lange anhalten, bis in Frankreich wieder mehr Kernkraftwerke ans Netz gegangen sind. Derzeit verzögert sich ihre Wiederinbetriebnahme und die Kapazitäten sind noch reduziert. Bis zum Sommer 2023 dürfte sich das aber ändern.
Auf lange Sicht könnten die Stromexporte aus dem Vereinigten Königreich jedoch wieder zunehmen, da es – und auch Irland – weitere Kapazitäten für Erneuerbare Energien ausbaut.
Mit dem Ausbau der Erneuerbaren kommt den Interkonnektoren in der Energiewende ebenfalls eine immer wichtigere Rolle zu. Denn dann wird es entscheidend sein, auf eine volatile Stromerzeugung reagieren zu können: Wenn zum Beispiel in einem Land mehr Strom produziert als verbraucht wird, dann kann dieser über die Verbindungsleitungen in ein anderes geleitet werden, wo er gebraucht wird und andernfalls aus fossilen Energieträgern generiert werden müsste. Dadurch können Länder mit großen nachhaltigen Erzeugungskapazitäten die Energiewende anderer Länder unterstützen und fossile Energiequellen aus deren Strommix drängen.
Ein Beispiel ist Irland: Das Offshore-Wind-Potenzial reicht aus, um den Strombedarf der gesamten Insel um ein Vielfaches zu decken (Link in Englisch). Bei fortschreitender Entwicklung könnte dies sogar den traditionellen Stromfluss vom Vereinigten Königreich nach Irland umkehren.
Das Vereinigte Königreich verfügt auch über ein riesiges Potenzial zur Stromerzeugung aus Offshore-Wind und ist in diesem Sektor bereits führend (Link in Englisch). Mit dem ehrgeizigen Ziel, 50 GW Offshore-Windkraftkapazität bis 2030 zu errichten, wird Großbritannien die grüne Stromerzeugung erheblich steigern.
Wenn parallel zum Ausbau der Erneuerbaren auch die internationalen Stromflüsse zunehmen, kann mit den täglichen und saisonalen Schwankungen der erneuerbaren Energieerzeugung noch effizienter umgegangen werden.