Die Stromnetze der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen fungierten in der postsowjetischen Ära für lange Zeit als „Inselsysteme“. Sie waren nicht mit anderen EU-Ländern verbunden. Inzwischen wurden erste Schritte zu einer größeren Vernetzung getätigt. Der sogenannte „baltische Ring“ – ein durch fünf Leitungen verbundenes System – verbindet die baltischen Staaten nun mit Finnland, Schweden und Polen. Außerdem sind die drei Länder weiterhin mit den Netzsystemen von Russland und Belarus synchronisiert. Das Baltikum plant jedoch, 2025 auch mit Europa verbunden zu sein. Das soll zu einer zuverlässigeren Stromversorgung und einer Preisangleichung an den europäischen Strommarkt führen. Letzteres soll den Ländern zudem ermöglichen, fast überall in Kontinentaleuropa Strom zu handeln.
Um die eigene Stromnachfrage decken zu können, war 2019 jeder baltische Staat auf Stromimporte angewiesen. In Litauen war dies beispielsweise aufgrund der Teilschließungen des Kernkraftwerks Ignalina (1,5 Gigawatt) in den Jahren 2004 und 2009 der Fall – die Abschaltung des dem ukrainischen Tschernobyl-Reaktor ähnelnden Kraftwerks war eine der Bedingungen für Litauens EU-Beitritt gewesen.
Estland, für gewöhnlich Stromexporteur, geriet 2019 ebenfalls in ein Stromdefizit: Die mit Ölschiefer befeuerten Kraftwerke produzierten weniger Energie als sonst. Bei Ölschiefer handelt es sich, wie bei Schieferöl, um Rohöl, allerdings in Form eines kerogenhaltiges Sedimentgesteins. Es stellt Estlands einzige größere Energiequelle aus festem Brennstoff dar. Die Verwendung für die Stromerzeugung ist jedoch kohlenstoffintensiv. Um die eigenen Treibhausgasemissionen zu reduzieren, muss Estland diese Art der Energiegewinnung auslaufen lassen. Gar nicht so einfach, denn 2018 betrug der Anteil des mit Ölschiefer produzierten Stroms satte 76 Prozent. Laut dem statistischen Amt der Regierung sank er im Jahr 2019 jedoch schon auf 57 Prozent.
Unter anderem diese Faktoren haben dazu beigetragen, dass alle drei baltischen Länder 2019 Strom importieren mussten. Estland erzeugte selbst 7,6 Terrawattstunden Strom – ein Rückgang von 38,6 Prozent gegenüber 2018 – und kaufte zusätzlich 2,2 TWh im Ausland ein. Lettland erzeugte 6,4 TWh Strom und importierte 1,1 TWh, Litauen 9,3 bzw. 3,7 TWh.
Die relativ geringe Größe der baltischen Strommärkte, die Schaffung des baltischen Rings, das Fehlen zuverlässiger heimischer Energiequellen und die geplante Synchronisation mit dem europäischen Stromsystem – all diese Faktoren werfen ein spannendes Licht auf das Offshore-Windpotenzial der drei Länder. Laut dem 2019 veröffentlichten Bericht „Study on Baltic Offshore Wind Energy Cooperation under BEMIP“ belaufen sich die potenziellen Offshore-Windressourcen in der Ostsee vor Estland auf sieben Gigawatt (GW), in Lettland auf 14,5 GW und in Litauen auf 4,5 GW. Der Bericht schätzt zudem, dass Offshore-Wind in diesen Ländern jährlich 24, 49,2 und 15,5 TWh Strom erzeugen könnte. Das würde fast dem dreifachen Volumen des inländischen Strombedarfs des ganzen Baltikums im Jahr 2019 entsprechen.
Dies könnte zur Folge haben, dass jedes dieser Länder zu einem bedeutenden Stromexporteur wird. Und die noch bevorstehende Synchronisation mit Europa würde es erlauben, den überschüssig produzierten Strom auch auf dem europäischen Strommarkt zu handeln. Ein potenzieller Ausbau des baltischen Rings – und somit der Netzleitungen – würde zusätzliche und zuverlässige Verbindungskapazitäten schaffen, die bei vollständigem Ausschöpfen der Offshore-Windressourcen auch von Nöten wären.
Um eine Zukunft mit mehr Erneuerbaren zu ermöglichen und das vorhandene Potenzial zu nutzen, unternehmen die baltischen Staaten bereits die ersten Schritte: 2020 hat die litauische Regierung Pläne für die Entwicklung eines 700-Megawatt-Offshore-Windparks bis 2030 genehmigt. Ein Ausschreibungsverfahren soll 2023 gestartet werden. Ähnlich wie in Großbritannien soll auch hier ein sogenanntes „Contracts for Difference“-System (CfD) zur Versteigerung von Kapazitäten genutzt werden. Um etwaige Umweltverträglichkeitsprüfungen, andere Studien und Untersuchungen zur Ermöglichung einer Ausschreibung zu unterstützen, hat die Regierung bereits 7,5 Millionen Euro zur Verfügung gestellt.
Schon letzten September unterzeichneten Estland und Lettland eine Absichtserklärung über die gemeinsame Entwicklung eines Offshore-Windparks im Golf von Riga mit einer Kapazität von bis zu einem GW. Als grenzüberschreitendes Projekt soll das Vorhaben EU-Fördermittel erhalten und vor allem bei der Netzinfrastruktur als Vorbild für zukünftige Offshore-Windparks dienen. Ein Entwicklungspartner dafür soll über eine Kapazitätsauktion ausgewählt werden. Darüber hinaus gibt es mehrere unabhängige Projekte, die zurzeit ebenfalls in Estland entwickelt werden.