Mit steigendem Anteil Erneuerbarer Energie zeigen sich immer neue Herausforderungen für die Stabilität der Stromnetze. Damit beispielsweise von Wind- und Sonnenstrom bedarfsgerecht zur Verfügung steht, müssen entsprechende Speicherkapazitäten aufgebaut werden.
Doch konventionelle Kraftwerke leisten mehr, als witterungsunabhängig Strom zu erzeugen: Sie stellen dem Stromnetz auch sogenannte Momentanreserve bereit. Dies ist Leistung, die Frequenzschwankungen im Stromnetz ausgleicht, ohne dass das Gleichgewicht durch systemische Eingriffe, also aktive Regulierung von Erzeugung und Verbrauch, wieder hergestellt werden muss.
Große Mengen Momentanreserve werden dann benötigt, wenn eine plötzliche, große Lastveränderung – etwa durch Ausfall eines ganzen Windparks – kompensiert werden muss, da anderweitig ein Stromausfall droht.
Zurzeit besteht Momentanreserve nahezu ausschließlich in der rotierenden Masse der Turbostränge von konventionellen Kraftwerken. Im Umkehrschluss bedeutet das: Mit jedem konventionellen Kraftwerk, das vom Netz genommen wird, geht Momentanreserve verloren. Eine weitere mit dem Thema verbundene Problemstellung betrifft gleichermaßen die sich damit reduzierende Kurzschlussleistung (siehe Info-Box), wobei hier die Momentanreserve exemplarisch im Fokus steht. In einer Miniserie stellt der en:former verschiedene Lösungsansätze vor.
„Die Kurzschlussleistung kennzeichnet die Leistungsfähigkeit eines elektrischen Energieübertragungsnetzes. Sie ist eine Bemessungsgröße, um die Beanspruchung einer elektrischen Anlage und dabei insbesondere das Schaltvermögen von Leistungsschaltern zu quantifizieren. Ein Leistungsschalter muss dabei über eine Ausschaltleistung verfügen, die größer ist als die Kurzschlussleistung. Die Kurzschlussleistung wird als Scheinleistung angegeben und errechnet sich aus dem im Fehlerfall auftretenden Kurzschlussstrom und der Nennspannung. Die Kurzschlussleistung ist demzufolge keine tatsächliche Leistung, da bei der Berechnung zwei Größen verknüpft werden, die nicht gleichzeitig auftreten. Im Fehlerfall tritt unter Umständen ein sehr hoher Kurzschlussstrom auf. Allerdings beträgt die Spannung im Kurzschlussfall am Fehlerort nahezu null Volt. Die Nennspannung ist hingegen für den Fall ohne Kurzschlussstrom festgelegt.“
Die wohl naheliegendste Lösung ist: rotierende Masse durch rotierende Masse zu ersetzen. Anstelle der Turbinen treten dann rotationskinetische Speicher. Die bestehen aus einem oder mehreren Schwungrädern, die über auf einer Welle sitzen, die mit einer „Synchronmaschine“ verbunden ist. So bezeichnen Fachleute eine Maschine, die sowohl als Generator Rotationsenergie in elektrischen Strom umwandeln als auch als Elektromotor das Schwungrad beim Aufladen antreiben kann.
Genau dies tut eine Synchronmaschine auf vollkommen natürliche Weise, wenn sie an ein Stromnetz angeschlossen wird: Übersteigt die Netzfrequenz ihr Soll von 50 Hertz, weil zu viel Strom im Netz ist, entzieht sie dem Netz Energie und erhöht damit (als Motor) die Drehzahl des Schwungrades. Umgekehrt gibt sie (als Generator) Rotationsenergie aus dem Speicher an das Netz ab, sobald die Frequenz unter das Soll abfällt, und stützt damit die Netzfrequenz. Dieser Prozess läuft ohne jede Steuerung, ganz einfach aus den physikalischen Gesetzen der Trägheit.
„Dies ist eine altbekannte und gut erprobte Technologie“, sagt Stephan Werkmeister, Global Tender Manager bei Siemens Energy. Das Unternehmen hat bereits mehrere große Schwungradspeicher aus dem Werk in Mülheim an der Ruhr in Australien, Italien und dem Vereinigten Königreich installiert. Gerade hat Siemens das bisher größte „Flywheel“ der Unternehmensgeschichte nach Irland geliefert: Anfang Mai ist der 177-Tonnen-Koloss im Kohlekraftwerk Moneypoint an der Südwestküste der Insel eingetroffen. „Die Lieferung beinhaltet das Flywheel samt Vakuum-Gehäuse und Kühlsystemen et cetera sowie die Synchronmaschine für den Netzanschluss“, erklärt Norbert Henkel, Director Sales and Business Development bei Siemens Energy.
Im Laufe des Sommers soll das Schwungrad ans Netz gehen. Dann wird der nur vier mal zwei Meter große 120-Tonnen-Zylinder aus Spezialstahl auf 3.000 Umdrehungen pro Minute (Upm) gebracht. Dank der enormen Leistung der Synchronmaschine dauere es nur rund 20 Minuten, um die Nenndrehzahl zu erreichen. Da das Flywheel in einem Vakuum verpackt ist, genügt ein geringer Energieaufwand, um sie aufrecht zu erhalten, erklärt Werkmeister: „Dann sind etwa 4.000 Megawattsekunden in der rotierenden Masse gespeichert, die als Momentanreserve abrufbar sind.“
Ein Beispiel für den praktischen Einsatz: Sollte einmal das Seekabel zwischen Irland und Großbritannien unter Volllast – immerhin 500 Megawatt (MW) – ausfallen, würde allein die Rotationsenergie des Flywheels dem Netzbetreiber acht Sekunden – in aller Regel genug Zeit – geben, um den Leistungsabfall durch weitere Reserveenergie zu kompensieren.
Nur wenn bis dahin keine zusätzliche Energie ins Netz gespeist wird, würde die Drehzahl des Schwungrads unter das notwendige Minimum von 2850 Upm fallen. Dies wäre gleichbedeutend mit einer Netzspannung unter 47,5 Hertz. Die Folge: Stromausfall. „Zurzeit ist es ein rein theoretisches Szenario, dass unser Flywheel die gesamte Momentanreserve allein leisten muss, weil Irland noch eine ganze Reihe Kohle- und Gaskraftwerke betreibt“, erklärt Henkel. „Allerdings heißt das auch: Wenn diese Kraftwerke wegfallen, braucht Irland den Ersatz.“
Dieser Zeitpunkt ist gar nicht so weit weg, denn Irland verfolgt ambitionierte Energiewendeziele: Das Kohlekraftwerk Moneypoint soll 2025 stillgelegt werden. Bis 2030 sollen 70 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen kommen. 2020 waren es bereits 42 Prozent. „Ab einem Anteil von 30, 40 Prozent Erneuerbarer Energien sollte man genauer hinsehen, ob zu jedem Zeitpunkt genug Momentanreserve verfügbar ist“, meint Werkmeister. „Schließlich liegt der Anteil der Erneuerbaren an Tagen mit besonders hoher Ausbeute noch einmal deutlich höher.“
Auf einer Insel sei dies noch einmal wichtiger als im Verbundnetz auf dem europäischen Festland, ergänzt Henkel: „Kritische Ereignisse in Deutschland können zum Teil auch durch Momentanreserve aus Frankreich oder Polen abgefangen werden. Das geht in Irland nicht.“ Das irische Stromnetz ist zwar über ein Seekabel mit dem Netz auf der Insel Großbritannien verbunden. Dadurch fließt die Energie aber als Gleichstrom, was den Spannungsausgleich erheblich erschwert. Großbritannien hat dasselbe Problem mit seinen Anschlüssen an das europäische Stromnetz. „Aus diesem Grund installieren diese beiden Länder derzeit massiv Momentanreserve in Form von Flywheels“, sagt Werkmeister.
Auch in Australien sind die Voraussetzungen für den Einsatz von Flywheels gegeben. Dort ist der Anteil der Erneuerbaren an der Gesamterzeugung mit rund 25 Prozent bisher zwar vergleichsweise klein. In sonnigen Mittagsstunden deckt die Photovoltaik aber in manchen Landesteilen nicht selten mehr als 70 Prozent des Bedarfs. Und obwohl Australien als Kontinent gilt, versorgt sein Stromnetz eine relativ kleine Volkswirtschaft mit nur rund 25 Millionen Menschen. Die riesigen Entfernungen machen es noch schwieriger, Netzschwankungen zu kompensieren.
Grundsätzlich können auch andere Energiespeicher Momentanreserve bereithalten. Das gilt insbesondere für die Turbinen von Wasser- und Pumpspeicherkraftwerken, aber ihre Anzahl und ihre Einsatzzeit ist in den meisten Ländern zu gering, um einen signifikanten Beitrag zur Momentanreserve zu leisten.
Auch Windkraftanlagen speichern rotationskinetische Energie – insbesondere wegen der geringeren Drehzahl allerdings in sehr geringem Umfang. Außerdem sind ihre Generatoren nicht in gleichem Maße geeignet, die Netzfrequenz zu stabilisieren und in den meisten Fällen nicht physikalisch direkt in Netz einspeisend, sondern über Leistungselektronik (Wechselrichter) angebunden. Mehr dazu werden sie in Teil 2 unserer „Miniserie Momentanreserve“ erfahren.
Auch Batteriespeicher, zur Zeit i.d.R. mit Lithium-Ionen-Technik, können blitzschnell von Energieaufnahme auf Energieabgabe umstellen, um die notwendigen Leistungen zu erbringen und aus ihren Wechselrichtern “on-top” auf ihren Alltagsbetrieb Momentanreserve potentiell noch günstiger als mit Flywheels bereitzustellen. Entsprechende Systeme wurden von der RWE Battery Solutions bereits in UK mit Partnern erprobt und finden von ABB und anderen Marktteilnehmern erste Anwendung z.B. in Australien.
Jedoch ist hier der Weg zu einem neuen “Standardprodukt” in den meisten Märkten noch ein wenig länger, da diese Lösung sehr genau zu definieren sind. Es kann nicht “einfach so” Momentanreserve als physikalische Größe bereitstellt, sondern diese muss “synthetisch” durch die Regelung der Wechselrichter erzeugt werden. Als aktuelles Beispiel ist hier der “Stability Pathfinder 3” von National Grid in UK zu nennen.
Bis erneuerbare mit Batteriespeicher sich für Momentanrserve am Markt etabliert haben gibt es deshalb nur eine echte Alternative zu neuen rotationskinetischen Speichern: bestehende Momentanreserve beibehalten. Ein Beispiel dafür ist das stillgelegte RWE-Kraftwerk Westfalen in Hamm. Hier baut Siemens Energy die bestehenden Generatoren zu einem reinen Phasenschieber um. „Allein die rotierenden Teile der Generatoren haben genug Masse, um einen signifikanten Beitrag zur Momentanreserve zu leisten“, sagt Henkel.
In anderen Projekten werden auch Teile der Turbinen beibehalten, um die rotierende Masse zu erhöhen. „Der Vorteil ist, dass bestehende Anlagen weitergenutzt werden“, erklärt Henkel. „Der Nachteil gegenüber einem neuen Flywheel ist ein höherer Energieverbrauch, weil diese Turbostränge kaum in ein Vakuum zu verpacken sind.“ Eine Kombination aus beidem wäre, die Dampfturbine durch ein Flywheel zu ersetzen und an den bestehenden Generator anzuschließen. Die Funktionsweise für das Stromnetz wäre jeweils identisch.