Die europäischen Gasmärkte sind durch den Einmarsch Russlands in der Ukraine unter starken Druck geraten. Die Aufmerksamkeit hat sich zwar vor allem auf die Verringerung der durch die Nord Stream I-Pipeline nach Deutschland fließenden Mengen konzentriert, doch es kommt auch anderswo zu Exportstopps und -reduzierungen. Das gibt Anlass zur Sorge, dass Europa in diesem Winter seine Strom- und Wärmenachfrage nicht decken kann.
Nach Angaben des Think Tanks Bruegel (Link in Englisch) wurden Anfang Juli die russischen Lieferungen nach Polen, in die Niederlande, nach Griechenland, Bulgarien, Dänemark und Finnland unterbrochen. Insgesamt flossen dadurch 252 Terawattstunden (TWh) weniger Gas. Und damit nicht genug: Auch die russischen Exporte nach Deutschland gingen um 369 TWh zurück, die nach Italien um 280 TWh und nach Frankreich um 117 TWh. Die Ströme in die Tschechische Republik, die Slowakei und Österreich verzeichneten ein Minus von insgesamt 239 TWh.
Darüber hinaus schürte im August die Nachricht, dass die staatliche russische Gasgesellschaft Gazprom die Nord-Stream-1-Pipeline Ende des Monats wegen ungeplanter Wartungsarbeiten für drei Tage abschalten würde, erneut die Befürchtung, dass Europa im Winter komplett von russischen Gasimporten abgeschnitten werden könnte.
Das würde die angespannte Lage weiter verschärfen: Europa deckt zwar in der Regel 25 bis 30 Prozent seines winterlichen Gasbedarfs aus Speichern. Aber die Vorräte waren zu Beginn des letzten Winters niedrig. Und die Möglichkeiten, sie wieder aufzufüllen, waren durch die Verringerung der russischen Importmengen eingeschränkt.
Dennoch sind die europäischen Länder durch eine Reihe von Maßnahmen auf dem besten Weg, das von der Europäischen Kommission vorgegebene Ziel zu erreichen, die Speicher bis zum 1. November zu 80 Prozent zu füllen. Möglich machen das unter anderem Nachfragereduzierungen, die Umstellung von Gas auf Kohle und verstärkte Importe aus nicht-russischen Quellen.
So waren die Gasspeicher in der laut Daten von Gas Infrastructure Europe (Link in Englisch) am 2. August zu 70,54 Prozent gefüllt. Damit lag der Füllstand sogar über dem Fünfjahresdurchschnitt von 70,32 Prozent. Bis zum 20. August stiegen die Speicherstände auf 76,99 Prozent.
Ob das Ziel erreicht wird, und vor allem, ob es sich als ausreichend erweisen wird, hängt jedoch weiterhin stark davon ab, wie sich die russischen Einfuhrmengen in den nächsten Monaten entwickeln werden und wie kalt der europäische Winter wird.
Darüber hinaus sind die Bemühungen, vor dem Winter Vorräte anzulegen, mit hohen Kosten verbunden. Gas wird aktuell nach wie vor zu rekordverdächtigen Preisen eingekauft. Und das, obwohl die europäischen Regierungen Unternehmen Hilfen wie Kreditlinien, Darlehen und Subventionen anbieten, um den Brennstoff zu beschaffen.
Die prekäre Anhängigkeit vom Gasangebot zur Deckung der erwarteten Winternachfrage hat die EU zu Sofortmaßnahmen veranlasst. Der Plan „Save Gas for a Safe Winter“ (Link in Englisch) zielt darauf ab, den Gasverbrauch zwischen August 2022 und März 2023 um 15 Prozent zu senken, verglichen mit dem durchschnittlichen Jahresverbrauch von 2016 bis 2021. Er ist am 9. August in Kraft getreten.
Die Verordnung beruht zunächst auf Freiwilligkeit. Im Falle einer „schwerwiegenden Gasversorgungsknappheit“ oder bei sehr hoher Nachfrage kann die EU ihre Mitglieder jedoch auffordern, einen Alarm auszurufen. Dann würden Kürzungen des Gasverbrauchs verbindlich und Ausnahmen davon begrenzt.
Länder, die stärker von russischen Gasimporten abhängig sind, werden ihren Gasverbrauch dann wahrscheinlich um mehr als 15 Prozent senken müssen. Bruegel schätzt, dass die Einsparungen, die bei einer vollständigen Abschaltung der russischen Gaslieferungen erforderlich wären, zwischen null (Spanien, Frankreich, Portugal) und 54 Prozent (Bulgarien, Griechenland, Ungarn, Kroatien und Serbien) liegen. Deutschland, die größte Volkswirtschaft der EU, müsste den Berechnungen zufolge seinen Gasbedarf um 29 Prozent senken.
Weil Haushalte nach den EU-Vorschriften als geschützte Verbraucher gelten, würden im Falle eines Alarms in erster Linie industrielle Verbraucher die Last der Kürzungen tragen.
Eine Möglichkeit, die Gasimporte zu steigern, ist die Erhöhung der Lieferungen von verflüssigtem Erdgas (LNG). Die europäischen LNG-Importe sind angesichts regionaler Beschränkungen der Wiederverdampfungskapazität und des Gastransports bereits so gut wie ausgelastet. In den ersten acht Monaten des Jahres 2022 beliefen sie sich nach Angaben von Refinitiv (Link in Englisch) auf durchschnittlich 10,62 Millionen Tonnen pro Monat. Das entspricht einem Anstieg von mehr als 60 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum.
Der Ansturm europäischer Käufer hat auch die LNG-Spotpreise auf Rekordniveau getrieben. Darüber hinaus beeilen sich eine Reihe europäischer Länder, neue Regasifizierungskapazitäten zu installieren. Ein Teil davon, darunter ein staatlich gefördertes Projekt unter der Leitung von RWE in Deutschland, könnte bis Jahresende in Betrieb genommen werden. Das wäre dann nicht nur eine der weltweit schnellsten Installationen in dem Bereich, sondern auch ein wichtiger Baustein für die Versorgungssicherheit des Landes.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Regasifizierungsprojekte in Belgien, den Niederlanden, Deutschland und anderen europäischen Ländern die LNG-Nachfrage erhöhen werden, noch bevor die Angebotsseite des Marktes Zeit hatte, sich darauf einzustellen. Das würde bedeuten, dass Europa alle neuen Flüssiggas-Kapazitäten, die in diesem Jahr in Betrieb genommen werden, für sich nutzen und darüber hinaus Lieferungen von den asiatischen Märkten abziehen wird. Infolgedessen werden die Gaspreise wahrscheinlich weiterhin hoch bleiben und die Lebenshaltungskosten der Verbraucher in ganz Europa weiter in die Höhe treiben.
Der Krieg in der Ukraine ist aber nicht der einzige Faktor, der eine Rolle spielt. Auch der Klimawandel scheint sich in einem der wärmsten europäischen Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen bemerkbar zu machen. Und Dürre und Hitze wirken sich ebenfalls negativ auf die Stromversorgung und Energiesicherheit aus.
Niedrige Wasserstände in Wasserkraftwerken verringern die Stromerzeugung aus einer wichtigen erneuerbaren Energiequelle, während niedrige Pegelstände in Flüssen den Betrieb von Wärmekraftwerken, die Flusswasser zur Kühlung nutzen, einschränken. Gleichzeitig wirken sie sich auch auf die Versorgung mit Energierohstoffen über wichtige Binnenwasserstraßen wie den Rhein aus. Denn Schiffe können aktuell nicht so viel Ladung wie üblich transportieren.
Alles in allem scheint sich ein sprichwörtlicher Sturm auf den europäischen Energiemärkten zusammenzubrauen. Doch Regierungen und Energieunternehmen wie RWE wappnen sich dafür sowohl mit kurz- als auch längerfristigen Maßnahmen, um die Energieversorgung unter extrem unsicheren und schwierigen Bedingungen zu sichern.
Die Nutzung von LNG und Gasspeichern könnte kurzfristig für die nötige Sicherheit sorgen. Auf Dauer müssen Regierungen und Unternehmen in ganz Europa ihre Ambitionen aber im Bereich der Erneuerbaren Energien bündeln und mehr nachhaltigen Strom vor Ort erzeugen.
Der REPowerEU-Plan der EU (Link in Englisch), der als Reaktion auf die Ukraine-Krise formuliert wurde, setzt beispielsweise auf eine wesentlich höhere Erzeugung regenerativer Energie aus Solar- und Windkraftanlagen, sowohl on- als auch offshore. Sie sollen den Übergang zu einer grüneren, energiesicheren Zukunft ermöglichen.