Autor: H.-W. Schiffer
In einem Gastbeitrag erörtert Dr. Hans-Wilhelm Schiffer die Charakteristika von Prognosen und Szenarien der Energiewende in unterschiedlichen Studien. Dabei ordnet er die von den genannten Institutionen verfolgten Ansätze kritisch ein. Ursprünglich erschien der Artikel 2021 unter dem Titel „Prognosen und Szenarien zur weltweiten Energieversorgung als Grundlage für klimapolitische Implikationen“ im Magazin World of Mining. Dies ist der zweite Teil der Beitragsreihe.
Im Oktober 2021 hatte die International Energy Agency (IEA) den World Energy Outlook 2021 (WEO-2021) vorgestellt. Die Publikation war als deutliches Signal an die UNFCCC Conference of the Parties (COP26) zu verstehen, die im November 2021 in Glasgow ausgerichtet worden war. Bei der Präsentation dieser umfassenden Studie wurden folgende Punkte durch die IEA hervorgehoben:
Prof. Dr. rer. pol. Hans-Wilhelm Schiffer
Lehrbeauftragter der RWTH Aachen, Mitglied im Studies Committee, World Energy Council, London und Vorsitzender der Redaktionsgruppe Energie für Deutschland beim Weltenergierat – Deutschland, Berlin
Mit Umsetzung dieser Anliegen soll die Transformation zu einer weltweit nachhaltigen Energieversorgung beschleunigt werden. Die bestehende Herausforderung, die Klimaziele von Paris zu erreichen, wird anhand von zwei exploratorischen und zwei normativen Szenarien veranschaulicht.
Diese vier Szenarien können wie folgt charakterisiert werden:
Das Stated Policies Scenario (STEPS) berücksichtigt die Maßnahmen, die tatsächlich in Kraft gesetzt wurden beziehungsweise sich zumindest in der Umsetzung befinden, um angekündigte energie- und klimapolitische Ziele zu erreichen. Als Beispiel kann das Fit-for-55 Package genannt werden, das im Juli 2021 von der Europäischen Kommission vorgeschlagen wurde. Es stellt einen exploratorischen Ansatz zur künftigen Entwicklung der Energieversorgung dar, der bis zum Jahr 2100 zu einem globalen Temperaturanstieg von 2,6 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Niveau führt.
Das Announced Pledges Scenario (APS) nimmt alle von Regierungen weltweit eingegangenen Klimaverpflichtungen, einschließlich der Nationally Determined Contributions (NDCs) sowie der längerfristigen Net-Zero-Ziele auf und geht davon aus, dass diese vollständig und fristgerecht erfüllt werden. Der globale Temperaturanstieg bleibt gemäß diesem Szenario bis 2100 auf 2,1 Grad Celsius begrenzt.
Das Sustainable Development Scenario (SDS) folgt einem Ansatz, der das Energiesystem auf den richtigen Weg zur Erfüllung der wichtigsten Nachhaltigkeitsziele bringt. Dazu gehören der Zugang aller Menschen zu bezahlbarer Energie bis 2030 und eine drastische Senkung der Schadstoffbelastung von Boden, Wasser und Luft. Bezüglich klimarelevanter Gase erreichen fortgeschrittene Volkswirtschaften bis 2050 Netto-Null-Emissionen, China um 2060 und alle anderen Länder bis spätestens 2070. Für dieses normative Szenario wird ein Höchststand im globalen Temperaturanstieg von 1,7 Grad Celsius im Jahr 2050 ermittelt.
Das Net Zero Emissions by 2050 Scenario (NZE) ist ein normatives Szenario, das einen schmalen, aber gangbaren Weg für das globale Energiesystem aufzeigt, um bis 2050 auf Netto-Null-Emissionen zu kommen, wobei fortgeschrittene Volkswirtschaften dies bereits vor anderen umsetzen. Dieses Szenario wird auch dem Anspruch der anderen genannten energiebezogenen UN-Ziele gerecht. Im NZE wird die Spitze im globalen Temperaturanstieg 2050 mit 1,5 Grad Celsius erreicht.
Die für die verschiedenen Szenarien ermittelten Ergebnisse unterscheiden sich stark. Nachfolgend werden die bis zum Jahr 2050 aufgezeigten Entwicklungen skizziert.
Im Stated Policies Scenario (STEPS) erfolgt zwar ein Wandel im Energieversorgungssystem. Wegen des weltweiten Bevölkerungsanstiegs von heute 7,75 Milliarden (Mrd.) auf 9,7 Mrd. im Jahr 2050 und wegen des erwarteten Anstiegs der Wirtschaftsleistung vor allem in den Entwicklungs- und Schwellenländern ist mit einer Zunahme des globalen Energieverbrauchs um 26 Prozent bis 2050 im Vergleich zu 2020 zu rechnen. Zwar nimmt der Anteil erneuerbarer Energien am weltweiten Primärenergieverbrauch von 16 Prozent im Jahr 2020 auf 28 Prozent im Jahr 2050 zu. Trotzdem decken fossile Energien, also Kohle, Öl und Erdgas, auch 2050 noch zwei Drittel des weltweiten Primärenergieverbrauchs – gegenüber 79 Prozent im Jahr 2020. Auf Kernenergie entfallen – ebenso wie 2020 – dann gut 5 Prozent.
Die Abscheidung und Nutzung bzw. Speicherung von CO2 (Carbon Capture and Usage/Storage – CCUS) leistet in diesem Szenario nur einen sehr begrenzten Beitrag zur Minderung der CO2-Emissionen. Die gesamten CO2-Emissionen sind gemäß diesem Szenario mit 33,9 Milliarden Tonnen (Mrd. t) im Jahr 2050 noch praktisch ebenso hoch wie 2020 mit 34,2 Mrd. t. Als Konsequenz steigen die globalen Temperaturen bis zum Jahr 2100 um 2,6 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Niveau.
Gemäß Announced Pledges Scenario (APS) sinken die globalen CO2-Emissionen um rund 40 Prozent auf 20,8 Mrd. t im Jahr 2050. Aber auch dieser Pfad ist noch mit einem Temperaturanstieg um 2,1 Grad Celsius bis 2100 verbunden. Im Unterschied zum STEPS bleibt der weltweite Anstieg des Primärenergieverbrauchs bis 2050 auf 14 Prozent begrenzt. Erneuerbare Energien kommen auf einen Anteil von fast 40 Prozent. Der Beitrag der Kernenergie erhöht sich auf 7 Prozent. Auf fossile Energien entfallen 53 Prozent, wobei deutlich größere Fortschritte bei CCUS unterstellt werden als im STEPS.
Die gegenwärtig angekündigten Verpflichtungen decken gleichwohl erst weniger als 20 Prozent der Lücke in der Emissionsreduktion ab, die bis 2030 geschlossen werden muss, um das 1,5 Grad-Ziel in Reichweite zu halten. Damit verbleibt selbst im Falle der Erfüllung der bis Mitte 2021 angekündigten Verpflichtungen ein deutlicher Ambition Gap zu den Klimazielen von Paris.
In den beiden normativen Szenarien – das sind das Sustainable Development Scenario (SDS) und das Net Zero Emissions by 2050 Scenario (NZE) – zeigt die IEA auf, wie gemäß den durchgeführten Modellrechnungen diese Lücke geschlossen werden könnte. Vier Maßnahmen werden als entscheidend herausgestellt:
Die Beschleunigung der Dekarbonisierung des Strommixes wird als der größte einzelne Hebel gesehen, der Politikern zur Verfügung steht. Die Hälfte der zusätzlichen Emissionsreduktion könnte ohne Kostenbelastung für die Verbraucher erreicht werden.
Dies soll durch Verbesserung der Material-Effizienz und die Veränderung des Verbraucherverhaltens erreicht werden. Nach Auffassung der IEA führen 80 Prozent der Energieeffizienz-Steigerung im NZE über die nächste Dekade zu Kostensenkungen für die Verbraucher.
Dies wird als sehr kosteneffiziente Maßnahme insbesondere in der Wertschöpfungskette der Öl- und Erdgaswirtwirtschaft gesehen.
Alle zur Emissionsminderung bis 2030 gemäß NZE notwendigen Technologien sind verfügbar. Allerdings muss die Hälfte der Emissionsreduktion, die bis 2050 laut NZE zu erreichen ist, durch Technologien erbracht werden, die sich noch in der Demonstrations- oder Prototyp-Phase befinden. Dies gilt insbesondere für Technologien in der Eisen- und Stahlindustrie, bei Zement und anderen energieintensiven Sektoren sowie im Ferntransport. Als Schlüsselfaktoren werden unter anderem die Entwicklung von auf Wasserstoff basierenden Technologien sowie die Umsetzung von CCUS gesehen.
Um die Welt auf den Pfad zum 1,5 Grad-Ziel zu bringen, sind Investitionen in Saubere Energie-Projekte und in die dafür nötige Infrastruktur in Höhe von nahezu 4 Billionen US$ pro Jahr erforderlich. Das meiste Kapital für das Investment muss aus der Privatwirtschaft kommen – auf Basis der Marktsignale und der Rahmensetzung durch die Politik.
Daneben werden auch öffentliche Finanzinstitute als erforderlich angesehen, wie internationale Entwicklungsbanken, um die Investitionen auszulösen, bei denen private Player keine hinreichende Balance zwischen Risiko und Chance sehen.
Die Entwicklung bei den einzelnen Energieträgern verläuft sehr unterschiedlich. Der globale Verbrauch an Kohle verringert sich in allen Szenarien. Aber die Differenz zwischen 10 Prozent Senkung bis 2030 in APS und 55 Prozent Rückgang in NZE wird durch die Geschwindigkeit bestimmt, mit der Kohle im Stromsektor verdrängt wird. Die Optionen sind Stilllegung bestehender Kapazitäten, Nachrüstung mit CCUS und Beimischung von CO2-freien bzw. CO2-armen Brennstoffen, wie Biomasse oder Ammoniak.
Der Ölverbrauch verringert sich künftig – und dies erstmals als Ergebnis der aktuellen Modellrechnungen der IEA, auch wenn es hinsichtlich der Ausprägung des Verlaufs starke Abweichungen zwischen den Szenarien gibt. In STEPS wird Peak Oil Demand Mitte der 2030er-Jahre erwartet, in APS bereits kurz nach 2025. Um NZE zu erreichen, muss der Ölverbrauch auf 25 mb/d bis Mitte des Jahrhunderts sinken. Das entspricht einem Rückgang um etwa 75 Prozent.
Die Erdgas-Nachfrage erhöht sich in allen Szenarien in den nächsten fünf Jahren. Danach unterscheiden sich die in den verschiedenen Szenarien aufgezeigten Pfade allerdings stark. In NZE wird keine Erschließung neuer Öl- und Gasfelder mehr für erforderlich gehalten – über die Projekte hinaus, die bereits in der Entwicklung sind. Der globale Erdgasverbrauch verringert sich in diesem Szenario bis 2050 um mehr als die Hälfte gemessen am Niveau des Jahres 2020.
Erneuerbare Energien legen in allen Szenarien deutlich zu – am stärksten im NZE. Im Jahr 2050 sind erneuerbare Energien in diesem Szenario mit 67 Prozent an der Deckung des Primärenergieverbrauchs beteiligt. Die Solarenergie steigt auf das Dreiundzwanzigfache im Vergleich zum Stand des Jahres 2020, Windkraft auf das Fünfzehnfache. Für Wasserkraft und für Biomasse wird – ebenso wie für Kernenergie – eine Verdopplung des absoluten Beitrags erwartet. Kernenergie hält dann einen Anteil von 11 Prozent an der Deckung des Primärenergieverbrauchs. Fossile Energien sind nur noch mit 22 Prozent beteiligt.
In der globalen Stromerzeugung steigt der Anteil der erneuerbaren Energien im NZE sogar auf 88 Prozent im Jahr 2050. Davon entfallen jeweils 35 Prozentpunkte auf Solar und Wind, 12 Prozentpunkte auf Wasserkraft, 5 Prozentpunkte auf Bio-Energie und 1 Prozentpunkt auf Geothermie. Für Kernenergie wird ein Anteil von 8 Prozent ausgewiesen. Wasserstoff und Ammoniak kommen auf 2 Prozent. Dies gilt ebenso für Kohle und Erdgas mit CCUS.
2050 wird es gemäß NZE weltweit 240 Millionen PV-Dachsysteme und 1,6 Milliarden Elektrofahrzeuge geben. Dies erfordert Batterie-Speicher, den Ausbau von Stromnetzen sowie steuerbare Anlagen auf Basis von Quellen mit niedrigen CO2-Emissionen, wie Wasserkraft, Geothermie, Bio-Energie, Wasserstoff und Ammoniak sowie kleine modulare Kernenergie-Reaktoren. Eine zunehmende Digitalisierung kann die Nachfragesteuerung sowie generell den Datenfluss unterstützen.
Seltene Erden und wasserstoffbasierte Brenn- und Kraftstoffe werden künftig zu wesentlichen Elementen im internationalen Energiehandel. Ihr kombinierter Anteil am Energiehandel steigt von 13 Prozent heute bis 2050 auf 25 Prozent im APS und auf mehr als 80 Prozent im NZE.
Im NZE werden große Marktchancen für Hersteller von Windturbinen, Solarpanels, Lithium-Ionen-Batterien, Elektrolyseuren und Brennstoffzellen gesehen. Mit einem Volumen von über 1 Billion US$ bis 2050 wird eine zum gegenwärtigen globalen Ölmarkt vergleichbare Größenordnung erwartet.
Die IEA sieht die Regierungen im Fahrersitz bei der Steuerung der künftigen Entwicklung, aber auch Kommunen, Unternehmen, Investoren und Verbrauchern kommt eine wichtige Rolle zu. Entscheidend für die sehr unterschiedlichen Ergebnisse in den vier Szenarien ist die unterstellte Bepreisung von CO2. In STEPS ist ein Anstieg der CO2-Preise bis 2050 auf bis zu 90 US$ (2020) pro Tonne in den Industriestaaten (unter anderem für die EU) als Modell-Input eingestellt. Im APS sind es 200 US$ (2020) pro Tonne in Industriestaaten mit Netto-Null-Emissionsverpflichtungen, in China 160 US$ (2020) pro Tonne und in Entwicklungs- und Schwellenländern mit Net Zero Pledges 160 US$ (2020) pro Tonne. Im SDS ist als Modell-Input für alle Staaten mit Netto-Null-Emissionsverpflichtungen der gleiche CO2-Preis wie im APS angesetzt, in anderen Industriestaaten sind es 160 US$ (2020) pro Tonne und in Schwellen- und Entwicklungsländern 95 US$ (2020) pro Tonne. Die höchsten CO2-Preise sind
für das Jahr 2050 im NZE angesetzt, und zwar 250 US$ (2020) pro Tonne in den Industriestaaten, 200 US$ (2020) pro Tonne in den größeren Schwellenländern und 55 US$ (2020) pro Tonne in sonstigen Schwellen- und Entwicklungsländern. Dies zeigt, dass der CO2-Bepreisung eine Schlüsselrolle für die Einhaltung der Pariser Klimaziele beizumessen ist.
Bildnachweis: © shutterstock.com, Bjoern Wylezich