Im Jahr 2022 kamen 22 Prozent des in Europa erzeugten Stroms aus Wind- und Solarenergie. Wind und Sonne lieferten damit erstmals mehr Strom als Gas. Das geht aus dem vom Thinktank Ember veröffentlichten „European Electricity Review 2023“ (Link in Englisch) hervor.
Trotz dieses Grünstrom-Rekords stiegen die CO2-Emissionen des EU-Stromsektors um 3,9 Prozent, da parallel sowohl die Gas- als auch die Kohleverstromung zunahmen. Wie erklären sich diese widersprüchlichen Trends und was können wir für 2023 erwarten?
Die Energiemärkte weltweit haben unter den Auswirkungen der russischen Invasion in der Ukraine und unter dem starken Rückgang des russisch-europäischen Gashandels gelitten. Die infolge der hohen Preise gesunkene Stromnachfrage führte zu einem Rückgang des Gesamtstromverbrauchs in der EU um 2,7 Prozent – vor allem bedingt durch den geringeren Verbrauch im letzten Quartal des Jahres 2022.
Obwohl die Nachfrage zurückging, entstand eine große Lücke in der Stromversorgung. Der Grund: Sowohl die Stromerzeugung aus Kernenergie – der größten Stromquelle der EU – als auch die aus Wasserkraft erreichten 2022 ein Rekordtief. Die Stromgewinnung aus Wasserkraft ging um 19 Prozent zurück, denn weite Teile Europas hatten mit außergewöhnlichen Dürreperioden zu kämpfen. Auch die Kernenergie lieferte 16 Prozent weniger Strom, da Deutschland im Zuge des beschlossenen Ausstiegs seine Reaktoren schrittweise vom Netz nimmt und zahlreiche französische Reaktoren aufgrund von Reparatur- und Wartungsarbeiten abgeschaltet werden mussten.
Trotzdem kam es nicht zu Engpässen in der Versorgung. Um den Rückgang bei Kern- und Wasserkraft auszugleichen, wurde die Stromproduktion aus fossilen Brennstoffen und Erneuerbaren Energien (ohne Wasserkraft) hochgefahren. Die Erzeugung aus Solarenergie nahm um den Rekordwert von 39 Terawattstunden (TWh) zu, was einer Steigerung von 22 Prozent entspricht. Die Windstromerzeugung stieg um 33 TWh (8,6 Prozent), während die Stromerzeugung aus Kohle und Gas um 7 Prozent beziehungsweise 0,8 Prozent zunahm.
Ember prognostiziert für das Jahr 2023 ein Comeback der Wasser- und Kernkraft, was zusammen mit dem weiteren Ausbau der Solar- und Windkraftkapazitäten die fossilen Energieträger stark unter Druck setzen würde – und einen willkommenen Rückgang der Emissionen im Stromsektor zur Folge hätte. Doch wie wahrscheinlich sind die Prognosen?
Wasserkraft ist ein zuverlässiger Energielieferant, um die Grundlast zu decken – sofern es genügend Wasser gibt. Wie 2022 erlebt, kann die Leistung jedoch von Jahr zu Jahr erheblich schwanken. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass der Klimawandel die Stromerzeugung aus Wasserkraft aufgrund von häufigeren Überschwemmungen und Dürren noch unbeständiger macht. Der WWF, der WWF Deutschland und das Zentrum für Angewandte Geowissenschaften (ZAG) der Universität Tübingen haben eine Studie veröffentlicht (Link in Englisch), in der sie unter anderem die Risiken des Klimawandels für die Wasserkraft untersucht haben.
Für 2023 sind die Aussichten zwar besser (Link in Englisch) – trotzdem gibt es Unsicherheiten, nicht zuletzt aufgrund des Wetters im Verlauf des Jahres. In den nordischen Ländern und in Italien blieben die Wasserstände im Januar im Vergleich zu 2021 niedrig, während sie sich in den Alpen und auf der Iberischen Halbinsel sehr gut erholt haben.
Das Comeback der Kernenergie ist ebenfalls nicht mit Sicherheit gegeben – und da Kernkraftwerke in der Regel sehr viel Strom erzeugen, haben Ausfälle große Auswirkungen auf die Versorgung. Deutschland hat im vergangenen Jahr die Laufzeit seiner letzten drei Kernkraftwerke bis April 2023 verlängert. Wird die Frist der anschließenden Abschaltung beibehalten, dann geht die Stromkapazität aus Kernkraft in der EU 2023 merklich zurück. Auch Belgien hat im September 2022 einen Reaktor in der Nähe von Antwerpen und am 31. Januar 2023 seinen Block Tihange 2 stillgelegt.
Die Stromerzeugung aus Kernkraft in Frankreich, die mit Abstand größte nukleare Kapazität in Europa, blieb im Januar 2023 ebenfalls 17,5 Prozent unter dem Durchschnitt für 2020/21. Zwar wird sich die Produktion voraussichtlich erholen, doch die notwendigen Reparaturen und Aufrüstungen der zunehmend veralteten französischen Reaktoren deuten darauf hin, dass die Strommengen von 2021 wohl nicht wieder erreicht werden.
Mit Blick auf die Erneuerbaren ist mehr Optimismus angebracht: Es ist davon auszugehen, dass Projektentwickler wie RWE Renewables trotz der immer noch langwierigen Genehmigungsverfahren und der Probleme in den Lieferketten weiterhin erfolgreich neue Solar- und Windkapazitäten bereitstellen werden. Solar Power Europe zum Beispiel prognostiziert (Link in Englisch), dass die Photovoltaik-Kapazität in der EU in diesem Jahr um mehr als 50 Gigawatt (GW) wachsen wird – und damit den Rekordzubau von 41,4 GW im Jahr 2022 noch einmal übertreffen wird.
Der Windpower Intelligence Global Forecast erwartet (Link in Englisch) ebenfalls, dass in Europa im Jahr 2023 19,4 GW an neuen Windkraftkapazitäten hinzukommen werden, gefolgt von 22,7 GW im Jahr 2024. 2022 lagen die neuen Kapazitäten noch bei 16,9 GW.
Die Rückkehr von Wasser- und Kernkraft in Verbindung mit der zunehmenden Nutzung von Wind- und Solarenergie dürfte sowohl die Stromerzeugung aus Kohle als auch aus Gas unter Druck setzen. Laut Ember könnte die Produktion aus fossilen Brennstoffen 2023 um 20 Prozent zurückgehen – das würde den Anstieg in 2022 mehr als wettmachen.
Neben den Unsicherheiten in den Bereichen Wasserkraft und Kernenergie gibt es jedoch noch weitere wichtige Variablen, die eine Rolle spielen. Zum einen ist da die Frage, in welchem Ausmaß die 2022 gesunkene Nachfrage nach Strom im Jahr 2023 wieder anzieht. Die jüngsten weltweiten Konjunktur-Prognosen haben sich zumindest etwas aufgehellt, nachdem die chinesische Regierung ihre Null-Covid-Politik beendet hat – und mit einem wirtschaftlichen Aufschwung geht auch ein erhöhter Strombedarf einher. Zum anderen weiß aber niemand, wie sich der Krieg in der Ukraine weiter auf die europäische Versorgungssicherheit auswirken wird – sicher ist nur: Sie wird ein bestimmendes Thema bleiben.
Was wird das Jahr 2023 also bringen? Sicherlich mehr sauberen Strom in Form von Wind- und Solarenergie, aber ob sich das in einem starken Rückgang des Verbrauchs fossiler Brennstoffe im Energiesektor niederschlägt, wird nur die Zeit zeigen.