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Gezeitenkraftwerke: Schottland nutzt Strom aus dem Meer
Ein neuer Typ von Gezeitenkraftwerk nutzt Propeller auf dem Meeresgrund statt Staumauern zur Stromerzeugung

Jeder, der sich schon einmal am Strand in die Wellen gestürzt hat, kennt die unbändige Kraft des Meeres. Dabei ist die Energie der Wellen harmlos verglichen mit der von Ebbe und Flut. Seit Jahrhunderten machen sich Menschen diese Energie zu nutze. Das Prinzip war meist das gleiche: Bei Flut wird das Wasser gestaut und dann bei Ebbe über einen Mechanismus zurückgeleitet, der die Energie nutzt: Früher waren es Schaufelräder von Mühlen, heute sind es Turbinen, die Strom erzeugen. Wobei moderne Gezeitenkraftwerke auch die einströmende Flut zur Stromerzeugung nutzen.

Dieses Prinzip wirtschaftlich umzusetzen, ist jedoch gar nicht so einfach. Gerade einmal sechs Gezeitenkraftwerke sind derzeit weltweit in Betrieb. Weitere geeignete Orte gibt es zwar, aber sie sind rar, die Investitionssummen immens und die ökologischen Auswirkungen nicht zu vernachlässigen.

Propeller statt Staumauer

Doch es gibt noch einen anderen Ansatz, die Energie der Gezeiten in Strom umzuwandeln – nach einem denkbar einfachen Prinzip, das stark an die Windkraft erinnert: Die Meeresströmung treibt einen Propeller an, der auf einem Generator sitzt. Auch diese Turbinen werden auf Gerüsten auf dem Meeresgrund installiert. Nur ragen sie nicht aus dem Wasser, sondern nutzen die kräftigen Strömungen am Meeresgrund, die bei Flut in die eine und bei Ebbe in die andere Richtung fließen.

Wie bei allen Gezeitenkraftwerken ist auch ihre Einspeisung extrem zuverlässig. Die Stärke der Strömung ist zwar nicht immer gleich. Sie unterscheidet sich von Ort zu Ort und auch in Abhängigkeit von Faktoren wie der Mondphase und der relativen Position der Sonne. Zuverlässig ist diese Form der Energie aber insofern, als sie sich auf Tag und Stunde sehr genau vorhersagen lässt – und zwar auf Jahre im Voraus. Das ist nicht nur für die Netzstabilität wertvoll, sondern auch für die Planungssicherheit und damit für die Finanzierungskosten.

Innovationsschmiede Schottland

Nicht ganz zufällig wohl sitzen zwei Unternehmen, die diese Technologie vorantreiben, in der schottischen Hauptstadt Edinburgh. Die britischen Inseln sind den Gezeiten besonders stark ausgesetzt. Nördlich von Schottland fließen die Wassermassen von der Nordsee in den Nordatlantik und zurück. Besonders günstig sind die Bedingungen zwischen den dortigen Inseln von Shetland und Orkney.

Genau dort, im Bluemull Sound zwischen den beiden nördlichen Hauptinseln der Shetlandinseln Unst und Yell, hat das Unternehmen Nova Innovation im Oktober 2020 die vierte von insgesamt sechs Turbinen installiert, mit denen das europäische Konsortium EnFAIT bis 2022 zeigen will, wie ein solcher Gezeitenkraftpark mit dieser Technologie aufgebaut, betrieben und abgebaut werden kann. Und dass er Strom zu Marktpreisen anbieten kann.

Genau dies hat EnFAIT mit der jüngst installierten Turbine vom Typ „Eunice“ mit einer maximalen Leistung von 100 Kilowatt (kW) offenbar erreicht: Dank einer neuen getriebelosen Turbine seien die Kosten um ein Drittel gesunken und könnten nun mit konventionell erzeugtem Strom konkurrieren. Eunice liefert nun Strom für etwa 40 britische Durchschnittshaushalte. Künftig sollen größere Turbinen und größere Produktionszahlen die Kosten weiter senken. Das Projekt, an dem neun Unternehmen und Forschungsinstitute aus Großbritannien, Belgien und Schweden beteiligt ist, wird von der Europäischen Union mit 20 Millionen Euro gefördert.

Größtes Gezeitenkraftwerk der Welt?

Mindestens eine Nummer größer ist Simec Atlantis Energy (SAE) unterwegs. Die AR1500-Turbine leistet bis zu 1,5 Megawatt (MW). Zum Vergleich: Das ist ungefähr so viel wie die durchschnittliche Leistung eines Windrades an Land. Vier dieser Aggregate hat das börsennotierte Unternehmen seit 2018 in der Meerenge zwischen den Orkneyinseln und der schottischen Küste installiert. Mit seinen sechs Megawatt ist MeyGen nach SAE-Angaben das größte Gezeitenströmungskraftwerk der Welt. Auch dieses Projekt wird von der EU gefördert – mit knapp 17 Millionen Euro.

In der nächsten Projektphase soll MeyGen um zwei Turbinen mit jeweils zwei Megawatt Leistung ergänzt werden. Eine Knotenstation im Meer, die den produzierten Strom sammelt, bevor er an Land transportiert wird, soll die Kosten für den weiteren Ausbau wesentlich reduzieren, heißt es. Denn SAE hat nach Unternehmensangaben bereits die Lizenz, im MeyGen-Gezeitenkraftpark weitere 80 MW zu installieren. Darüber hinaus bestehe eine Option, das Projekt auf eine Größe von 398 MW auszubauen. Damit wäre es mehr als eineinhalbmal so leistungsstark wie das bisher größte Gezeitenkraftwerk mit Staumauer in Südkorea und hätte die Größe eines mittleren Offshore-Windparks.

Weltweites Potenzial

Neben MeyGen will SAE allein in Großbritannien sechs weitere, wenn auch deutlich kleinere Gezeitenströmungskraftwerke bauen. Weitere Projekte hat das Unternehmen in Frankreich, Kanada, Indien, China und Indonesien in Aussicht. Das größte ist das im indischen Bundesstaat Gujarat. Hier geht es um bis zu 250 MW.

Ein EU-gefördertes Forschungsprojekt (auf Englisch)schätzt das wirtschaftlich erschließbare Potenzial der Technologie weltweit auf bis zu 800 Terawattstunden. Das wären 2019 immerhin drei Prozent der weltweiten Stromerzeugung laut BP Statistical Review of World Energy (auf Englisch) gewesen. In Europa, so der Bericht, könnte die Nutzung der Gezeitenströmungen im Jahr 2050 bis zu zehn Prozent des Strombedarfs decken.

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