Wer von den Klippen an der Praia do Norte in Portugal aufs Meer blickt, ist unwillkürlich gebannt von der Urgewalt des Meeres. Bis zu 25 Meter türmen sich hier größten Wellen auf, die jemals ein Mensch gesurft ist.
Die schier unendliche Energie des Meeres für den Menschen nutzbar zu machen, beschäftigt Ingenieure seit Langem. Und sie haben zahlreiche Möglichkeiten untersucht: Gezeitenkraftwerken, die Meerwasser in Buchten stauen, Turbinen am Meeresgrund, Wellenkraftwerke und Anlagen, die Unterschiede in der Wassertemperatur oder dem Salzgehalt zur Energiegewinnung nutzen. Mit den Erkenntnissen über die Ursachen des Klimawandels hat die Suche eine neue Dringlichkeit erhalten, aber global gesehen ist die Nutzung bisher überschaubar. Und so gibt die Internationale Energieagentur (IEA) (auf Englisch) der Branche die Note „not on track“ – „nicht in der Spur“.
Die beiden größten Gezeitenkraftwerke – eins in Frankreich, eins in Südkorea – haben eine installierte Leistung von rund 250 Megawatt (MW). Darüber hinaus gibt es ein paar kleinere Anlagen zum Beispiel in Großbritannien, den Niederlanden und Kanada. In Summe kamen sie laut International Renewable Energy Agency (IRENA) (auf Englisch) im Jahr 2019 gerade einmal auf 531 MW und produzierten kaum mehr als eine Terawattstunde (TWh) Strom. Das entspricht einem einzelnen großen Offshore-Windpark.
Doch das Interesse scheint zu wachsen – insbesondere an Turbinen, die Energie aus der Strömung der Gezeiten gewinnt. Im Februar ging Japan einen ersten Schritt, um die Strömungen rund um die fast 7000 Inseln des Archipels zu nutzen: In einer Meerenge zwischen den Goto-Inseln in der südwestlichen Präfektur Nagasaki wurde eine Turbine mit 500 Kilowatt Leistung vom schottischen Hersteller Simec Atlantis Energy (auf Englisch) installiert. In den ersten zehn Betriebstagen erzeugte sie zehn Megawattstunden (MWh) Strom. Der Aufbau – inklusive Platzierung des Sockels auf dem Meeresgrund, Verschraubung der Turbine darauf und Anschluss ans Stromnetz – dauerten lediglich fünf Tage.
Die Turbine ist das Ergebnis jahrelanger Entwicklungsarbeit im MeyGen-Projekt, das mit bescheidenen sechs MW Leistung das größte Gezeitenströmungskraftwerk der Welt ist. In der ersten Projektphase wurden im Jahr 2016 vier Turbinen mit je 1,5 MW vor der schottischen Nordküste installiert, wo die weltweit schnellsten Gezeitenströmungen zwischen dem schottischen „Festland“ und der unbewohnten Insel Stroma fließen.
In der zweiten Projektphase sollen zwei größere Turbinen installiert werden, die kostensenkend über eine gemeinsame Verteilerstation im Meer mit dem Stromnetz verbunden werden statt einzeln. Die aktuelle Genehmigung beinhaltet den Bau weiterer 49 Turbinen mit einer Gesamtkapazität von 86 MW.
Die Gezeitenströmungen sind keine konstante Energiequelle. Aber sie ist in hohem Maße vorhersagbar – auf Jahre im Voraus. Und die hohe Dichte von Wasser erlaubt Stromerzeugung auch bei niedrigen Strömungsgeschwindigkeiten. Die IEA-Initiative Ocean Energy Systems (OES) (auf Englisch), an der sich 25 Mitgliedsländer von allen bewohnten Kontinenten beteiligen, schätzt das weltweite Erzeugungspotenzial auf 1200 TWh pro Jahr. Das Danish Hydraulic Institute (auf Englisch) beziffert das Leistungspotenzial mit 75 Gigawatt. Europa bietet laut Schätzungen ein Potenzial von mehr als zwölf Gigawatt. Die günstigsten Standorte liegen um die britischen Inseln, zwischen Frankreich und den Kanalinseln, in der Ägäis sowie zwischen Sizilien und Italien.
Im Jahr 2015 schätzte die OES (auf Englisch) die Gestehungskosten einer Megawattstunde Strom mit Gezeitenkraft im ersten Projekt von kommerzieller Größe auf 130 bis 280 US-Dollar, ging aber bereits davon aus, dass die Kosten bis zur ersten Umsetzung um 61 Prozent sinken würden. Simec Atlantis schätzte im vergangenen Jahr die Gestehungskosten seiner neuen Projekte auf 140 US-Dollar/MWh. Im Juni 2020 stellte das EU-geförderte TiPA-Konsortium (auf Englisch), an dem Unternehmen und Forschungseinrichtungen aus Großbritannien, den Niederlanden, Frankreich und Deutschland beteiligt sind, eine neue getriebelose Turbine vor. Nach TiPA-Angaben liegen die Gestehungskosten um 29 Prozent niedriger als bei den Vorgängerturbinen. Zum Vergleich: Die Gestehungskosten für Offshore-Windenergie liegen heute meist unter 25 US-Dollar/MWh.
Potenzial zur Kostenreduktion besteht jedoch auch bei der Bestimmung der besten Standorte. Ein schottisches Forscherteam (auf Englisch) will zeitnah ein zwölfmonatiges Projekt starten, in dem sie Meeresströmungen mittels Drohnen untersuchen. Das dürfte erheblich preiswerter sein als die Suche mit Forschungsschiffen und Sensoren auf dem Meeresgrund. Erfahrungswerte bei der Installation etwa der Fundamente und Kabel, könnten die Kosten zusätzlich senken.
Wind- und Solarenergie haben gezeigt, wie schnell Kosten sinken können, wenn Förderprogramme es ermöglichen, Anlagen in größerer Menge zu bauen, bevor eine kommerzielle Nutzung möglich ist.
Das Vereinigte Königreich fördert Erneuerbare Energien mit Differenzverträgen. Und in der vierten Ausschreibungsrunde, die im Laufe des Jahres erfolgen soll, hat man die verfügbaren Kapazitäten in verschiedene Lose aufgeteilt. Eines davon ist für weniger etablierte Energien reserviert, für das auch Gezeitenkraft zugelassen ist. Dort müssen Strömungsturbinen also nicht mit Wind- und Solarstrom konkurrieren, sondern mit anderen Technologien in ähnlich frühen Entwicklungsphasen.
Bildnachweis: © Simec Atlantis Energy