Visualisierung des LOHC-Reaktors
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„Jede Energie nutzen, damit das System funktioniert“
Im Jülicher Reallabor „Living Lab Energy Campus“ entwickeln Forscher ein integriertes Energiesystem

Energiesysteme werden zunehmend dezentral: Statt weniger Großkraftwerke werden immer mehr kleine Erzeugungsanlagen und Speicher Strom und Wärme bereitstellen. Zudem müssen wetter- sowie tages- und jahreszeitbedingte Erzeugungslücken überbrückt werden, auch Bedarfsspitzen gilt es anders zu decken als bisher.

Wie sich in diesem Szenario Industrie- und Gewerbestandorte möglichst effizient mit Energie versorgen lassen, will das Forscherteam des Living Lab Energy Campus (LLEC) am Forschungszentrum Jülich herausfinden.

Eigendefinition des LLEC

Das LLEC ist eine Erprobung einer wissenschaftlich technologischen Plattform zur Entwicklung hoch integrierter Energieversorgungssysteme durch lernfähige und vorausschauende Regelungsstrategien in den Bereichen Wärme, Strom, chemische Energiespeicher und Mobilität.

Als Reallabor dient das Forschungszentrum Jülich selbst. Dort baut das LLEC-Team seit 2019 sukzessive ein Energiesystem mit konsequenter Sektorkopplung, das gleichzeitig in die regionale Energieinfrastruktur eingebunden ist. Die verschiedenen Module sollen durch eine Software-Plattform verknüpft werden.

Der en:former hat mit dem Projektmanager Stefan Kasselmann gesprochen, um mehr über das LLEC und einzelne Module zu erfahren und darüber, wie sich die Erkenntnisse auf andere Standorte übertragen lassen.

Herr Kasselmann, wie würden Sie das Ziel des LLEC beschreiben?

Kasselmann

Wir wollen mit dem LLEC-Projekt Optionen eruieren, wie wir zukünftige, dezentral geprägte Energiesysteme betreiben können: einerseits technologisch und andererseits wirtschaftlich, also mit der entsprechenden Skalierung.

Das heißt zunächst: Welche Technologien – also etwa Wasserstoff, Batterie-Speicher, Photovoltaik-Anlagen – brauchen wir? Welche Rollen müssen diese Komponenten spielen, und welche Größe müssen sie in Bezug zueinander haben? Gleichzeitig schauen wir, welchen Beitrag Prosumer leisten können, also zum Beispiel Gebäude durch Lastverschiebung oder E-Autos durch bidirektionales Laden.

Ein Großteil unserer Forschung dreht sich allerdings um die Entwicklung der darüber liegenden IKT-Plattform, die alle Anlagen miteinander verbindet. Nur wenn wir die richtigen Betriebsmodi und Algorithmen für die Softwareplattform finden, besteht die Chance, das Zusammenspiel optimal zu steuern.

"Das ist ja im Grunde, worum es bei einer vernünftigen Sektorkopplung geht: Man jede frei werdende Energie irgendwie mitverarbeiten, damit das Gesamtsystem wirtschaftlich funktioniert." Stefan Kasselmann , Projektmanager LLEC

Wasserstoff soll in den Energiesystemen der Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Im LLEC soll er vor allem als saisonaler Energiespeicher dienen. Allerdings ist es aufgrund der extrem niedrigen Dichte schwierig, Wasserstoff langfristig zu speichern. Ihr Lösungsansatz ist der „LOHC One Reactor“. Was genau macht der?

Kasselmann

Mit dem „LOHC One Reactor“ speichern wir den Wasserstoff nicht wie sonst üblich unter hohem Druck oder verflüssigt bei ­‑253 Grad Celsius, sondern wir binden ihn an organische Trägermoleküle. Dazu nutzen wir Benzyltoluol, das mit Wasserstoff beladen eine volumetrische Energiedichte hat wie Wasserstoff unter einem Druck von 700 bis 1000 Bar.

Benzyltuluol ist, ähnlich schwer entflammbar wie Diesel, hat eine vergleichbare Viskosität und hat auch dieselbe Wassergefährdungsklasse. Deshalb kann es – samt Wasserstoff – einfach umgepumpt und in ganz normalen Tanks drucklos und ohne Selbstentladung transportiert und praktisch unbegrenzt lang gelagert werden. Der Nachteil ist, dass man die Flüssigkeit auf etwa 300 Grad Celsius erhitzen muss, um den Wasserstoff wieder auszutreiben.

Was ist LOHC?

LOHC steht für Liquid Organic Hydrogen Carrier (Deutsch: flüssige organische Wasserstoffträger). Dabei handelt es sich um Substanzen, die in entsprechenden Reaktoren Wasserstoff aufnehmen und wieder abgeben.

Das Komprimieren von Wasserstoff auf 700 Bar kostet etwa 12 Prozent der gespeicherten Energie, das Verflüssigen noch mehr; hinzu kommen sogenannte Boil-Off-Verluste, durch die mit der Zeit Wasserstoff verloren geht. Aber das Erhitzen auf 300 Grad klingt auch nicht unbedingt energieeffizient.

Kasselmann

Würde man nur den Wasserstoff nutzen, um Strom zu erzeugen, läge der Wirkungsgrad tatsächlich nur bei 50 Prozent. Aber unser Reaktor steht direkt neben dem BHKW (Blockheizkraftwerk, d. R.). Die Abwärme davon nutzen wir, um den gebundenen Wasserstoff freizusetzen.

"Wir schätzen die Speicherwirkungsgrade in der Gesamtbilanz von Wasserstoff und Wärme auf über 90 Prozent." Stefan Kasselmann , Projektmanager LLEC

Einen Moment! Die Abwärme des Blockheizkraftwerks wird ja in das Wärmenetz eingespeist, nach dem Freisetzen des Wasserstoffs dürfte dafür also weniger Wärme zur Verfügung stehen. Letztlich leistet also das BHKW die Energie für die Ausspeicherung. Wo genau liegt dann die Energieersparnis, die zu diesem enormen Speicherwirkungsgrad führt?

Kasselmann

Die Ersparnis fällt dadurch an, dass die Einspeicherung des Wasserstoffs im Sommer ebenfalls Wärme von rund 300 Grad Celsius freisetzt. Wir benötigen dann also weniger Gas für das BHKW, um ausreichend Energie in das Wärmenetz auf dem Campus einzuspeisen, in dem wir auch im Sommer einen Wärmeenergiebedarf von mehreren Megawatt haben. So lässt sich einerseits Solarkraft chemisch als Wasserstoff speichern und in den Winter transferieren, andererseits nutzen wir im Sommer weniger Gas, das dann im Winter zur Verfügung steht. So kommen wir bilanziell auf diesen sehr hohen Speicherwirkungsgrad. Die Effizienz von LOHC-Anlagen kann also durch eine intelligente Kopplung mit anderen geeigneten Abwärmequellen – und senken deutlich erhöht werden.

Diese Lösung wäre dann aber eher etwas für Industriegebiete als für Wohnquartiere, oder? 

Kasselmann

Tatsächlich wäre die Wärme mit 300 Grad am ehesten für chemische Prozesse in großtechnischen Anlagen geeignet. Man könnte damit über ein Nahwärmenetz natürlich auch Leitungswasser erwärmen. Aber der Einsatz in Wohnvierteln wäre wohl nur dann sinnvoll, wenn auch Anlagen angeschlossen werden können, die ganzjährig Wärmeenergie in entsprechenden Dimensionen benötigen, beispielsweise ein Schwimmbad.

Apropos: Von welchen Dimensionen reden wir hier eigentlich?

Kasselmann

Der Reaktor, den wir derzeit bauen, ist 15-mal so groß wie der Labormaßstab und wird eine Leistung von 300 Kilowatt (kW) haben. In Bezug auf das, was wir in Deutschland brauchen, sind das Peanuts, aber für eine wissenschaftliche Anlage ist das schon relativ groß. Und wenn das gut funktioniert, wäre auch denkbar, in den Megawatt-Maßstab zu gehen. In Süddeutschland beispielsweise gibt es bereits gut funktionierende Reaktoren, die allerdings jeweils nur eine Richtung abbilden, also entweder Wasserstoff in das LOHC ein- oder ihn ausspeichern können. Unser bidirektionaler Reaktor ist nach unserem Wissensstand weltweit einzigartig.

Was bedeutet Energiedichte?

Man unterscheidet zwei Arten von Energiedichte:

Volumetrische Energiedichte  

Die volumetrische Energiedichte bezeichnet das Verhältnis von Energiegehalt und Volumen. Zum Beispiel enthält ein Liter (l) Diesel 9,6 Kilowattstunden (kWh), typische Li-Ionen-Akku zwischen 0,15 und 0,3 kWh/l.

Bei Gasen wird die volumetrische Energiedicht für gewöhnlich pro Kubikmeter (m³ = 1000 l) angegeben und hängt von Speicherdruck und Aggregatzustand ab.

Erdgas hat unter Normaldruck eine volumetrische Energiedichte von etwa 10 kWh/m³, flüssige Erdags (LNG) dagegen enthält 4200 kWh/m³.

Wasserstoff kommt unter Atmosphärendruck und Normaltemperatur auf etwa 2,8 kWh/m³, unter einem Druck von 700 bar enhält H2 etwa 1.300 kWh/m³, durch Verflüssigung verdoppelt sich dieser Wert ungefähr noch einmal.

Gravimetrische Energiedichte 

Die gravimetrische Energiedichte setzt den Energiegehalt ins Verhältnis zum Gewicht. Bei Diesel liegt dieser Wert bei 11,9 kWh/kg, bei Erdgas sind es zwischen 10,6 und 13,1 kWh/kg, bei Li-Ion-Akkus um die 0,1 bis 0,2 kWh/kg. Wasserstoff hat – unabhängig von Druck und Aggregatzustand – eine gravimetrische Energiedichte von 33,33 kWh/kg.

Nun wird der LOHC-Reaktor im LLEC nur ein Modul von vielen sein. Das Zusammenspiel soll von einer IKT-Plattform gesteuert werden. Worin liegen die größten Herausforderungen bei der Softwareentwicklung?

Kasselmann

Im LLEC beschäftigen sich allein 12 bis 15 Personen nur mit der Software dieser Regelungsplattform. Eine der Herausforderungen dabei ist, dass die Anlagen ganz unterschiedliche „Sprachen“ sprechen. Wir müssen also standardisierte Kommunikationsprotokolle implementieren, damit die angeschlossenen Anlagen eine Art virtuellen Markt bilden können, auf dem die jeweiligen Leistungspotenziale und Energiebedarfe regelungstechnisch optimiert zusammenfinden.

Da fließen dann zum Beispiel Füllstände oder Ertragsprognosen von Wind und Sonne sowie historische Nutzungsprofile, Produktionsdaten oder auch anonymisierte Informationen aus Kalendern der Belegschaft mit ein, um zum Beispiel das Beheizen von Büros und Seminarräumen zu optimieren.

Gehen wir einmal davon aus, dass die LLEC-Software eines Tages all diese Module so verknüpfen kann, dass sie das Reallabor mit Energie versorgen kann. Wie gut wäre das auf andere Gewerbe- oder Industriegebiete anwendbar?

Kasselmann

Wir entwickeln modulare Energiesystemkomponenten. Je nach Anwendungsfall können also beispielweise ein Elektrolyseur, eine Brennstoffzelle und ein BHKW und so weiter in Größen passend zum Lastprofil gekoppelt werden. Das System würde dann zunächst modelliert und optimiert. Die Idee ist, dass die Softwareplattform jedoch bei jeder Modulkombination funktioniert.

Technologien im LLEC

Das FZ Jülich betreibt und erforscht im Rahmen des LLEC eine Reihe Anlagen mit unterschiedlichen Technologien und deren Zusammenspiel. Darunter sind mehrere Photovoltaik-Anlagen mit einer Gesamt-Peakleistung von 1,5 Megawatt sowie ein Hochenergie- und ein Hochleistungs-Lithium-Ionen-Speicher. Die Hochleistungsbatterie soll einerseits für die unterbrechungsfreie Stromversorgung von wissenschaftlichen Versuchen sorgen und zum anderen Last- und Produktionsspitzen im Netz glätten.

Das Nahwärmenetz, in das künftig auch die Abwärme aus der Wasserstoffrückgewinnung gespeist werden soll, nutzt bereits heute die Abwärme des zentralen Großrechners.

Daneben erforscht das LLEC-Team zahlreiche weitere kleinere und größeren Anlagen wie einen PV-Gehweg, eine Hocheffizienz-Brennstoffzelle sowie eine reversible Brennstoffzelle, die Wasserstoff sowohl verstromen als auch gewinnen kann und, wie E-Autos durch bidirektionales Laden zum „Peak-Shaving“, also zur Pufferung von Lastextremen im Stromnetz, eingesetzt werden können.

Und wann könnte das so weit sein?

Kasselmann

Was das berühmte Technology Readiness Level, also die Anwendungsreife angeht, befinden sich die Anlagen auf verschiedenen Niveaus. Einige werden vielleicht in ein oder zwei Jahren so weit sein, dass man sie in einem experimentierfreudigen Umfeld bereits einsetzen könnte. In fünf bis zehn Jahren könnten sie dann soweit skaliert sein, dass man sie auch zur Deckung der Grundlastnutzen kann.

In den nächsten Jahren wird der Erfolg auch davon abhängen, inwieweit Unternehmen oder Industrieparkbetreiber bereit sind, in ein solch innovatives Energiesystem zu investieren und natürlich auch wie die Energiepreise sich entwickeln.

Wir haben aber bereits Anfragen zum Beispiel aus Tagebaurandgebieten. Einige Kommunen sehen es als Asset, dass sie nun ganze Ortschaften praktisch von Null wiederaufbauen müssen und dadurch entsprechende Gestaltungsspielräume haben.

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