Offshore-Windenergie gewinnt zusehends an Bedeutung für die Energiewende. Immer mehr Länder erkennen die Potenziale. Noch konzentrieren sich fast alle in Betrieb befindlichen Offshore-Windparks allerdings auf Europa und Asien. Doch das weltweite Interesse an der Technologie nimmt stetig zu. So auch in Südamerika, wo Kolumbien die Pole-Position im Rennen um das erste Windkraftprojekt auf hoher See des Kontinents innehat.
Das südamerikanische Land wird voraussichtlich in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 seine erste Ausschreibung für Offshore-Windkraftanlagen (Link in Englisch) in der zentralkaribischen Zone vor den Provinzen Bolívar und Atlántico realisieren. Sind die Lizenzen vergeben, werden die Projekte das Genehmigungsverfahren und das Verfahren zur Beantragung einer Seekonzession durchlaufen.
Zudem wurden in zwei Pilotprojekten schon konkrete Fortschritte erzielt: Im Januar 2022 unterzeichnete die Stadt Barranquilla eine Absichtserklärung für den Offshore-Windpark „Barranquilla“ mit einer geplanten Kapazität von 350-400 Megawatt (MW). Das 200-MW-Projekt „Vientos Alisios“ erhielt im Januar 2021 den Vor-Machbarkeitsstatus, im April 2022 sicherte die nationale Planungsbehörde für Energie und Minen „Unidad de Planeación Minero-Energétia (UPME)“ eine Garantie für einen 200-MW-Anschluss an das nationale Stromnetz zu. Beide Projekte sollen 2026/27 fertiggestellt werden.
Offshore-Wind eröffnet dem Land enorme Potenziale für nachhaltige Energieerzeugung. Laut der Offshore-Wind-Roadmap der kolumbianischen Regierung (Link in Englisch) hat die Nordküste des Landes Windgeschwindigkeiten von mehr als 10 Metern pro Sekunde (m/s) in einer Nabenhöhe von 150 Metern, wobei die Küste vor der Region La Guajira am vielversprechendsten ist. Die westliche Pazifikküste des Landes ist mit Windgeschwindigkeiten unter 6 m/s hingegen weniger ergiebig und geeignet.
Die Karibikküste des Landes verfügt neben der hohen Windgeschwindigkeiten auch über günstige Wassertiefen. Beträchtliche Flächen sind nur bis zu 70 Meter tief und damit für traditionelle Windräder mit Fundamenten im Boden geeignet. Die noch weiter von der Küste entfernten, tieferen Gewässer sind derweil für schwimmende Windkraftanlagen zugänglich.
Die potenziellen Standorte lassen sich auf sechs für fest installierte und acht für schwimmende Windkraftanlagen eingrenzen. Das entspricht einer potenziellen Kapazität von 27,2 respektive 21,6 Gigawatt (GW). Genug, um das kolumbianische Stromsystem nachhaltig zu verändern.
Bei einer entsprechenden Unterstützung des Sektors, beispielsweise durch spezielle technologiebezogene Ausschreibungen, könnten nach Schätzungen der Weltbank bis 2030 1 GW, bis 2040 3 GW und bis 2050 9 GW an Offshore-Windkraftanlagen entstehen.
Der Entwicklungsplan, der in Zusammenarbeit mit der Weltbank erstellt wurde, macht jedoch deutlich, dass zunächst umfangreiche Investitionen in neue Übertragungsinfrastrukturen erforderlich sind, um das Offshore-Windpotenzial des Landes ausschöpfen zu können.
Besonders akut dürfte der Wettbewerb in der Region La Guajira sein, wo es derzeit überhaupt keine Übertragungskapazitäten für Offshore-Projekte gibt. Alle geplanten Erweiterungen sind für Onshore-Projekte vorgesehen.
Fehlende Übertragungskapazitäten und der Wettbewerb mit den Erneuerbaren Energien an Land könnten sich so als großes Hindernis für die Entwicklung der kolumbianischen Offshore-Windressourcen erweisen.
In Kolumbien ist bisher nur wenig Onshore-Windenergie oder Solarenergie entstanden. Es wird aber erwartet, dass die Kapazitäten in der nächsten Zeit in Folge der Ausschreibungsrunden in den Jahren 2019 und 2020 ansteigen werden. In der Ende 2019 durchgeführten Auktion (Link in Englisch) wurden Wind- und Solarprojekte mit einer Kapazität von insgesamt 1,3 GW für die .
Gegenwärtig wird der kolumbianische Strommix von Wasserkraft dominiert, die mehr als 60 Prozent des Strombedarfs des Landes deckt. Diese Art der Stromerzeugung ist jedoch sehr volatil und hängt von der Höhe der Niederschläge und der Eisschmelze in den Anden ab, die infolge des Klimawandels (Link in Englisch) immer weniger vorhersehbar sind. Zudem kann die Erzeugung stark durch das Wetterphänomen El Niño beeinflusst werden.
Kolumbien erschließt dennoch weiter ungenutztes Wasserkraftpotenzial. Die ersten beiden Einheiten des stark verzögerten Hidroituango-Projekts (Link in Englisch) wurden im Dezember 2022 mit einer Zusatzleistung von 600 MW in Betrieb genommen. Nach Fertigstellung des Projekts, die für 2024 erwartet wird, wird die Kapazität auf 2,4 GW ansteigen – genug, um etwa 17 Prozent des Strombedarfs des Landes zu decken.
Schwankungen in der Stromerzeugung aus Wasserkraft werden in der Regel durch die Nutzung fossiler Brennstoffe ausgeglichen. Kolumbien ist ein großer Exporteur von Kohle und fördert zusätzlich auch Erdöl und Erdgas. Ein Terminal für Flüssigerdgas ermöglicht außerdem den Import von Gas, falls die heimische Versorgung nicht ausreicht.
Die Offshore-Windenergie kann also eine wesentliche Rolle bei der Diversifizierung des nationalen Energiemixes spielen und die Dekarbonisierung des Elektrizitätssystems über die Wasserkraft hinaus vorantreiben.
Eine Vorreiterrolle in diesem Sektor könnte erhebliche zusätzliche Vorteile bringen, sofern es Kolumbien gelingt, ein regionales Zentrum für die Lieferkette zu werden. Auf diese Weise könnte die Entwicklung der Offshore-Windenergie in ganz Südamerika vorangetrieben werden.
Die Erteilung von Genehmigungen in der zweiten Hälfte des Jahres 2023 wird einen wichtigen Schritt für den aufstrebenden Offshore-Windsektor des Landes darstellen und möglicherweise anderen südamerikanischen Ländern einen Weg aufzeigen, sich der wachsenden Zahl von fast zwanzig Ländern weltweit (Link in Englisch) anzuschließen, die die riesigen und nachhaltigen Energieressourcen vor ihren Küsten bereits erschließen.