Nur sechs US-Bundesstaaten sind kleiner als Massachusetts. Und doch hat der Neuengland-Staat das größte Offshore-Windkraftpotenzial der USA. Wenn man Wassertiefen von mehr als 60 Meter einrechnet, ist es noch größer als das von Texas, das ein erhebliches Stück größer als die Iberische Halbinsel ist. Massachusetts ist kleiner als Brandenburg.
Und doch werden rund 15 Prozent des gesamten Offshore-Windkraftpotenzials der USA Massachusetts zugeschrieben: Gut 1.000 Terawattstunden (TWh) pro Jahr sollen in den Gewässern vor der Küste des „Bay State“ zu ernten sein, heißt es in einer Studie des National Renewable Energy Laboratory (NREL) von 2016.
Auf Basis aktueller Technologien liegt das Offshore-Windkraftpotenzial der USA demnach bei mehr als 7.000 TWh jährlich. Das ist fast das Doppelte des aktuellen Gesamtverbrauchs der größten Volkswirtschaft der Erde. Berücksichtigt sind dabei nur Flächen außerhalb von Naturschutzgebieten. Eine Leistung von 2.000 Gigawatt (GW) wäre möglich, bisher haben die USA gerade einmal 30 Megawatt (MW) Offshore-Windkraft installiert. Doch das soll sich ändern: So sind Projekte mit insgesamt 25 GW (25.000 MW) geplant, davon sollen laut nationalem Windkraftverbandes AWEA 7,5 GW bis zum Jahr 2026 ans Netz gehen.
Massachusetts nutzt bisher nur Onshore-Windkraft, und das in bescheidenem Maße: 113 MW waren es Ende September 2019. Ansonsten wird Strom hauptsächlich in Gaskraftwerken erzeugt. Andere konventionelle Stromerzeugung gibt es in dem Bundesstaat nicht mehr, seit Ende 2018 das letzte Kohlekraftwerk vom Netz ging und Mitte 2019 das einzige Kernkraftwerk abgeschaltet wurde. Trotz eines vergleichsweise niedrigen Pro-Kopf-Konsums verbraucht Massachusetts nach Daten der US-Energiebehörde EIA fast zwölf Mal so viel Strom, wie es selbst erzeugt.
Offshore-Windstrom könnte also teilweise den Strombedarf der rund sieben Millionen Einwohnern des Staates decken. Zumal die meisten von ihnen nahe der Küste in der Boston Area leben, die bis in die Nachbarstaaten New Hampshire und Rhode Island hineinreicht. Dort übrigens, vor der Küste des südlichen Nachbarn Rhode Island, befindet sich der bisher einzige Offshore-Windpark der USA.
Anders als seine Nachbarn Rhode Island, Connecticut und New York hat sich Massachusetts bisher nicht dem Bündnis „We’re still in“ (deutsch: Wir sind weiter dabei) angeschlossen, mit dem sich zehn Bundesstaaten, mehr als 2000 Unternehmen und Hunderte weitere zivile und öffentliche Organisationen und Körperschaften zu den internationalen Klimazielen bekennen. Dafür nimmt der Bundesstatt Teil an der 2009 gegründeten „Regional Greenhouse Gas Initiative“, einem regionalen Emissionshandelssystem, über das neun Nordoststaaten ihre Emissionen zwischen 2015 und 2030 um rund 40 Prozent senken wollen.
Die kräftigen und konstanten Winde der Atlantikküste wären eine Möglichkeit, diese Emissionsziele zu erreichen – ohne die Versorgungssicherheit aufs Spiel zu setzen oder sie allzu sehr von konventionellen Quellen als Back-up abhängig zu machen.Im Jahr 2016 beschloss der Gesetzgeber, dass Stromerzeuger bis 2027 1,6 GW Offshore-Kapazität installieren müssen. 2018 wurden die Forderung auf 3,2 GW bis zum Jahr 2035 ergänzt.
Pläne für Offshore-Windparks stehen allerdings nicht nur vor finanziellen Herausforderungen: Jedes Projekt, das weiter als drei Seemeilen vor der Küste liegt, muss auch von den US-Bundesbehörden abgesegnet werden. Hinzu kommen Klagen aus unterschiedlichen Richtungen.
Welch schweren Stand die Offshore-Windkraft in den USA bisher hatte, zeigt unter anderem das Projekt „Block Wind“ in Rhode Island. Die ursprünglichen Pläne sahen fast die 13-fache Kapazität (385 MW) vor, und der Windpark sollte bis in die Gewässer von Massachusetts hineinreichen. Das Projekt „Cape Wind“, das erste große Offshore-Projekt in den USA, wurde 2017 nach sieben Jahren Entwicklung wegen Problemen mit der Genehmigung eingestellt. Es hätte vor der Südküste von Massachusetts gebaut werden sollen.
Auch ein aktuelles Projekt, nur 25 Seemeilen weiter südlich, verzögert sich wegen bürokratischer Hürden: Die Investoren von „Vineyard Wind“ hatten bereits eine Genehmigung für einen 800 GW Windpark, nun müssen sie weitere Umwelt-Gutachten vorgelegen. Die ursprünglich avisierte Fertigstellung 2021/2022 dürfte sich daher verzögern.
Möglicherweise kommt man sich dann sogar dem zweiten Großprojekt mit der gleichen Größe in die Quere, weil sie um Hafen- und Schiffskapazitäten konkurrieren: “Mayflower Wind“ wenige Seemeilen weiter östlich soll 2025 ans Netz gehen. Beide Windparks zusammen sollen zwischen 800.000 und einer Millionen Haushalte mit Strom versorgen und rund 3,3 Millionen Tonnen CO2-Emissionen einsparen.
Trotz der aktuellen Widrigkeiten könnten die beiden als erste Offshore-Großprojekt der USA ein Türöffner für diese Art der Energiegewinnung sein. Dies wäre ganz im Sinne der Internationalen Energieagentur IEA, die in ihrem „World Energy Outlook 2019“ der Offshore-Windkraft und ihrem immensen Potenzial einen Schwerpunkt gewidmet hat.