Der Begriff „Reallabor“ ist – vorsichtig formuliert – etwas sperrig. Gemeint sind damit Forschungsvorhaben, die technische und nicht-technische Innovationen im realen Umfeld erproben. Das ungewohnte Wort taucht schon im Koalitionsvertrag der aktuellen schwarz-roten Bundesregierung auf. Das Bundeswirtschaftsministerium hat das Ganze für den Strombereich nun als millionenschweren Ideenwettbewerb organisiert. „Mit Reallaboren der Energiewende werden zukunftsfähige Energietechnologien unter realen Bedingungen und im industriellen Maßstab erprobt und können so die Transformation unserer Energiesystems beschleunigen“, erläutert Bundeswirtschaftsminister Peter Altmeier (CDU). „Wir unterstützen Unternehmen und Forscher in Deutschland dabei, ihre Innovationskraft zu entfalten und bei der Umsetzung der Energiewende in den Regionen einzubringen.“
Sperrig oder nicht – die Aussicht auf staatliche Förderung hat einen wahren Run ausgelöst: Bis zum Ablauf der Einreichungsfrist Anfang April gingen 88 Projektskizzen beim zuständigen Projektträger, dem Forschungszentrum Jülich, ein. Aus „Datenschutz- und Geheimhaltungsründen“ wird die Liste der Projekte nicht veröffentlicht. Nun wird erst mal gesichtet und geprüft. „Es ist geplant, die fachliche Bewertung und Priorisierung im Mai abzuschließen und im Sommer 2019 die ausgewählten Projektvorschläge bekanntzugeben“, heißt es aus dem Bundeswirtschaftsministerium.
Da die Energiewende alle Sektoren betrifft, ein großes und weites Feld ist, hat das Ministerium drei Bereiche ausgewählt, die im Fokus der ersten Ausschreibungsrunde stehen und potentiell gefördert werden sollen: „Sektorkopplung und Wasserstofftechnologien“, „großskalige Energiespeicher im Stromsektor“ sowie „energieoptimierte Quartiere“.
Wie viele Projekte letztendlich mit welcher Summe unterstützt werden, ist noch nicht klar. Nach der aktuellen Finanzplanung der Bundesregierung stehen für die ausgewählten Reallabore im Zeitraum von 2019 bis 2022 jährlich 100 Millionen Euro zur Verfügung. „Mehr als 25 Millionen Euro wird es pro Projekt mit Sicherheit nicht geben“, glaubt der Energie-Informationsdienst. Im nächsten Jahr könnten sich zudem die Schwerpunkte ändern. „Konkrete Planungen dazu gibt es derzeit nicht“, so eine Sprecherin des Ministeriums.
Unter den eingereichten Projekten und denen, die dahinter stehen, befinden sich viele bekannte Player der einzelnen Sektoren. Die Unternehmen haben sich zumeist in Konsortien organisiert – wie zum Beispiel Vattenfall zusammen mit dem Anlagenbauer MAN, VNG im Team mit Uniper oder BP, das sich an mehreren Ausschreibungen mit unterschiedlichen Partnern beteiligt.
Mit insgesamt drei Projekten ist RWE am Start. Das erste heißt „GET H2“. Hinter dieser Initiative stehen u. a. RWE Generation SE, Nowega, Siemens, Enertrag und die Stadtwerke Lingen. Im Reallabor planen die Partner den Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur im Emsland – als Nukleus einer deutschlandweiten H2-Infrastruktur. Diese soll die Sektoren Energie, Industrie, Verkehr und Wärme verbinden. Zentrales Element ist die Errichtung einer Power-to-Gas-Anlage mit einer Leistung von 105 MW, die Strom aus regenerativer Energie in „grünen Wasserstoff“ umwandelt. Hinzu kommen Transport und Speicherung des reinen Wasserstoffs in bestehenden Infrastrukturen sowie die Nutzung des selbigen in Industrie und Verkehr.
Wasserstoff gilt als wichtiger Zukunftsbaustein für eine erfolgreiche Energiewende. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Elektrolyse auf Basis erneuerbarer Energien zu. Strom aus Wind und Sonne wird bei der Aufspaltung von Wasser zu „grünem“ Wasserstoff. Zu einem Energieträger und Rohstoff, der wesentlich dazu beitragen kann, die CO2-Emissionen über den Stromsektor hinaus deutlich zu senken. Für energieintensive Branchen wie die Stahlindustrie und die chemische Industrie kann grüner Wasserstoff ein entscheidender Schritt in Richtung Klimaverträglichkeit sein.
„Erneuerbare Energien, Strom- und Gasnetze, Gasspeicher sowie die konventionelle Flüssigkraftstoff-Infrastruktur bis hin zu den Abnehmern von Wasserstoff und Abwärme in der chemischen Industrie: Das alles gibt es schon in der Region, so dass ideale Voraussetzungen für diese innovative Technologie und eine schnelle Projektumsetzung gegeben sind“, unterstreicht Roger Miesen, Vorstandsvorsitzender der RWE Generation. „In Lingen können wir die gesamte Wertschöpfungskette im industriellen Maßstabdemonstrieren und haben durch die vorhandene Infrastruktur erhebliches Synergiepotenzial.“
Das zweite Projekt mit RWE-Beteiligung, das sich um die Förderung bewirbt, ist das auf diesem Blog bereits vorgestellte Kohlekraftwerk im Rheinischen Revier, das zu einem großen Flüssigsalz-Wärmespeicher umgerüstet werden soll.
In eine andere Richtung geht die Initiative „Sustainable PowerFuel“, die Parallelen zum „GET H2“-Projekt aufweist: Schon seit zehn Jahren entwickelt bzw. realisiert RWE am Standort Niederaußen mit nationalen und internationalen Partner aus Industrie sowie Wissenschaft sogenannte CCU-Projekte. Das sind Projekte, die sich mit der Abscheidung und Verwendung von CO2 beschäftigen. Mit dem vorgeschlagenen Reallabor soll im Rheinischen Revier nun in einem nächsten Schritt ein Demonstrationsstandort für Power-to-X-Technologien entwickelt werden. Dieser Blog hat den derzeitigen Stand der Technologie bereits ausführlich vorgestellt.
Auch bei dieser Technik kommt – wie bei „GET H2“ – „grüner“ Wasserstoff aus regenerativen Energien zum Einsatz, der an einem RWE-Standort im Rheinischen Revier produziert wird. Dieser dient nun jedoch zusammen mit abgetrenntem CO2, das zunächst noch aus dem Abgas eines Kraftwerks stammen kann und später sukzessiv durch andere CO2-Quellen ersetzt werden soll, als Ausgangsstoff für die Produktion von synthetischen Treibstoffen wie Methanol. Diese weisen gegenüber mineralischen Treibstoffen deutlich positivere Verbrennungs- und Emissionseigenschaften aus und können klimaneutral Fahrzeuge antreiben oder rückverstromt werden.
Zusammen mit der Elektromobilität können aus Wasserstoff und CO2 hergestellte Kraftstoffe nicht nur einen wichtigen Beitrag für die Verkehrswende leisten. Dank ihrer hohen Energiedichte und guten Lagereigenschaften sind sie zudem sehr gute Langzeit-Energiespeicher, die vielfältig und flexibel im Ferntransport (zum Beispiel LKW, Schiff, Bahn) eingesetzt werden können.
Ein wichtiger Aspekt des Projektes ist die Prüfung eines möglichen H2-Pipeline-Anschlusses des Reallabors an ein (zukünftiges) Wasserstoffnetz. Hierzu wird eine konkrete Verknüpfung der Reallabore „Sustainable PowerFuel“ im Rheinischen Revier und „GET H2“ in Lingen über eine H2-Trasse angestrebt.
Spätestens Ende des Sommers dürfte klar sein, welches Projekt den Run auf die ersten „Reallabore der Energiewende“ gewonnen hat.
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