Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine versucht Europa unter Hochdruck russisches Pipeline-Gas durch die Einfuhr von Flüssigerdgas (LNG) zu ersetzen. So haben die EU und Großbritannien in den ersten fünf Monaten dieses Jahres durchschnittlich 0,42 Milliarden Kubikmeter (m3) LNG pro Tag importiert. Das ist eine Steigerung von 66 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum und eine von fast 50 Prozent im Vergleich zu den ersten fünf Monaten 2019, dem bisherigen Rekordwert, so die Daten von Cedigaz, einer internationalen Organisation der Gasindustrie.
Rein rechnerisch verfügt Europa, einschließlich der Türkei, über umfangreiche LNG-Importkapazitäten: Mehr als 170 Millionen Tonnen pro Jahr verteilt auf 17 Länder, was 231 Milliarden m3 pro Jahr (= rund 0,63 Milliarden m3 täglich) entspricht. Im vergangenen Jahr importierte die EU etwa 155 Milliarden m3 russisches Gas und 102 Milliarden m3 LNG.
Eine Reihe von Faktoren führt jedoch dazu, dass die europäischen LNG-Terminals nicht in vollem Umfang genutzt werden können:
Das augenfälligste Beispiel für ungenutzte LNG-Terminals ist Spanien. Das Land verfügt über eine LNG-Importkapazität von fast 60 Mrd. m3, was etwas mehr als einem Viertel der gesamten europäischen Anlagen entspricht. Dennoch hat das Land, das auch Gas über Pipelines aus Algerien bezieht, im Jahr 2021 nur knapp 19 Milliarden m3 LNG importiert – die Terminals waren also nur zu einem Drittel ausgelastet.
Das Gegenbeispiel dazu ist Italien. Das Land, das stark von Erdgas in der Energieversorgung und dabei insbesondere von russischen Gasimporten abhängig ist, verfügt lediglich über LNG-Terminals mit einer Kapazität von etwa 15 Mrd. m3 pro Jahr. Diese wurde in den vergangenen Jahren zu mehr als 80 Prozent genutzt und ist aktuell voll ausgelastet.
Im Jahr 2020 importierte Italien nach Angaben von BP 19,7 Milliarden m3 russisches Pipelinegas und 12,1 Milliarden m3 LNG aus dem Ausland und verbrauchte insgesamt 67,7 Milliarden m3 Gas. Dies lässt wenig Spielraum für eine Erhöhung der LNG-Lieferungen über die bestehenden Anlagen.
Spaniens LNG-Importterminals können auch deshalb nicht effektiv genutzt werden, weil es an großen Gasleitungen über die Pyrenäen zwischen Spanien und Frankreich fehlt. Und das, obwohl die Verbindung in den vergangenen Jahren ausgebaut wurde.
Ein Vorschlag für eine neue Pipeline namens MIDCAT, die die beiden Länder miteinander verbinden sollte, scheiterte damals daran, dass die Gasströme zwischen den beiden Ländern überwiegend in Nord-Süd-Richtung und nicht in Süd-Nord-Richtung verliefen. Denn in Südfrankreich mangelt es an Weiterleitungskapazitäten in Regionen mit höherem Bedarf, wie zum Beispiel Norditalien und Nordeuropa.
Mittlerweile existiert jedoch ein neuer Vorschlag, die Gasnetze Spaniens und Italiens direkt miteinander zu verknüpfen. Snam, der Betreiber von Gaspipelines in Italien, und der spanische Fernleitungsnetzbetreiber Enagas haben eine Machbarkeitsstudie für eine zwischen den beiden Ländern verlaufende Offshore-Pipeline (Link in Englisch) mit einer Kapazität von bis zu 30 Milliarden m3 pro Jahr gestartet.
Die Machbarkeitsstudie wird voraussichtlich drei bis vier Monate dauern. Dafür dürfte der Bau einer Offshore-Pipeline schneller vonstattengehen als der einer Onshore-Pipeline, da es in der Umgebung weder menschliche Siedlungen noch wirtschaftliche Aktivitäten gibt. Das könnte die Genehmigungsverfahren erleichtern und beschleunigen.
Die neue Pipeline soll 700 Kilometer unter Wasser zwischen dem Regasifizierungsterminal in Barcelona und dem norditalienischen Hafen von Livorno verlaufen. Lokalen Berichten zufolge würde das Projekt 2,66 Milliarden Dollar kosten und ein bis zwei Jahre Bauzeit erfordern.
Die Pipeline könnte jedoch nicht nur die Gasversorgung Italiens verbessern (Link in Englisch), sondern könnte auch noch weiter genutzt werden. Von Italien könnte das regasifizierte LNG über bestehende Pipelines weiter nach Mitteleuropa transportiert werden.
In Italien wird auch der Bau einer „EastMed“-Gaspipeline diskutiert, mit der die Gasvorkommen vor den Küsten Israels, Ägyptens und Zyperns erschlossen werden könnten. Darüber hinaus plant Italien, die LNG-Importkapazitäten im eigenen Land durch das Chartern schwimmender Terminals zu erweitern. Dies gilt auch für andere europäische Länder, vor allem für Deutschland, das derzeit über keinerlei LNG-Importkapazitäten verfügt.
In dem Maße, in dem die europäische Importkapazität steigt, werden die Importländer von der Ausweitung des weltweiten LNG-Angebots abhängig sein. Dies wird wahrscheinlich einige Jahre dauern, da insbesondere die USA und Katar weitere Verflüssigungsanlagen bauen wollen.
Katar ist auf dem besten Weg (Link in Englisch), seine Exportkapazitäten bis 2026/27 in zwei Phasen von 105 Milliarden Kubikmetern auf 171 Milliarden m3 zu erweitern. Der Golfstaat hat vor kurzem eine Reihe ausländischer Partner für dieses Vorhaben vorgestellt.
Und im Hinblick auf Nordamerika hat das US-Unternehmen Venture Global (Link in Englisch) im Mai eine endgültige Investitionsentscheidung für die Phase 1 der Entwicklung seiner Plaquemines-LNG-Anlage mit einem Volumen von 17,7 Milliarden m3 getroffen. Darüber hinaus wird erwartet, dass andere US-LNG-Entwickler diesem Beispiel folgen werden.
Eine Offshore-Pipeline zwischen Spanien und Italien ist zwar keine unmittelbare Lösung für die europäische Gaskrise. Sie könnte aber, wenn sie rechtzeitig in Betrieb geht, vom Wachstum des globalen LNG-Marktes profitieren.