Energiewende, Digitalisierung und Elektrifizierung schreiten voran. Der Strombedarf steigt. Stilllegung von Anlagen, Sicherheitsbereitschaft und Kernkraftausstieg: Die Zahl der Kraftwerke, die rund um die Uhr Strom produzieren können, sinkt. Wie kann unter diesen Bedingungen die Stromversorgung sicher funktionieren? Es kommt ganz entscheidend auf das Zusammenspiel von erneuerbaren Energien und konventionellen Kraftwerken an.
Dienstag, 24. Januar 2017, 12 Uhr am Mittag:
Die Sonne will und will sich über Deutschland nicht zeigen. Es fehlt der Wind, der die Wolken verdrängen könnte. Es herrscht „Dunkelflaute“. Wind- und Sonnenkraft liefern weniger als fünf Prozent der benötigten Energie, weitere neun Prozent kommen aus den regulierbaren Biomasse- und Wasserkraftwerken. Die konventionellen Kraftwerke laufen auf Hochtouren, können den Gesamtbedarf aber nicht ganz decken. Außer Pumpspeicherkraftwerken gibt es keine signifikanten Speicherkapazitäten. Deutschland muss Strom importieren.
Montag, 23. April 2018, 14 Uhr:
Ein sonniger Frühlingstag mit auffrischendem Wind in Norddeutschland. Die erneuerbaren Energien haben laut Bundesnetzagentur in der vergangenen Stunde 44.210 Megawattstunden (MWh) ins Stromnetz eingespeist, 86 Prozent davon stammten aus Wind- und Solarkraftanlagen. Verbraucht wurden deutschlandweit in dieser Zeit 69.082 MWh – ein durchschnittlicher Wert mitten an einem Werktag. Das fehlende Drittel der benötigten Menge kommt von konventionellen Energieträgern. Über die 24 Stunden des Tages haben erneuerbare und konventionelle Energien jeweils rund 50 Prozent des Bedarfs gedeckt.
Dienstag, 1. Mai 2018, 13 Uhr:
Verglichen mit den zurückliegenden Wochen ist es recht kühl in Deutschland, obwohl die Mai-Sonne immer wieder scheint. Womöglich verhindert der kräftige Wind höhere Temperaturen. In jedem Fall treibt er die Windkraftanlagen an. Zwischen 13 und 15 Uhr decken die erneuerbaren Energien erstmals den gesamten deutschen Strombedarf. Wind- und Solarkraftanlagen allein liefern rund 90 Prozent. Klar ist aber auch: Die knapp 105.000 MWh erneuerbaren Stroms in diesen zwei Stunden genügen nur deshalb, weil am Tag der Arbeit die meisten Betriebe stillstehen. Am 2. Mai, einem typischen Werktag, liegt der Verbrauch im gleichen Zeitraum bei gut 136.000 MWh.
Drei Beispiele und ein eher durchschnittliches. Sie zeigen, wie diffizil die Stromversorgung in Deutschland schon heute ist. Und daran wird sich absehbar nichts ändern. Denn die moderne Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft verlangt nach immer mehr Strom: für sauberere Mobilität, wettbewerbsfähige Industrien, umfangreiche Datennetze und smarte Gebäudeinfrastrukturen.
Während der Strombedarf also weiter steigen dürfte, gehen immer mehr Kraftwerke mit zuverlässiger Leistung vom Netz. Das Ende der Kernenergie ist für 2022 terminiert, acht Braunkohleblöcke gehen zusätzlich in die Sicherheitsbereitschaft und die Betreiber haben bei der Bundesnetzagentur weitere Kraftwerke zur Stilllegung Anfang der 2020er Jahre angemeldet.
In den letzten Jahren wurden laut Bundesnetzagentur deutschlandweit 42 Kraftwerksblöcke mit einer Kapazität von mehr als 8.700 Megawatt (MW) stillgelegt. Per April 2018 haben die Betreiber weitere 65 Stilllegungen beantragt. Allerdings hat die Bundesnetzagentur 20 davon einstweilen abgelehnt, da die Anlagen als systemrelevant gelten.
Bis dahin rechnet der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft BDEW vor, werde die konventionelle Kraftwerkskapazität von heute knapp 90.000 MW auf 75.300 MW sinken. An einem durchschnittlichen Wochentag würde das zusammen mit Biomasse und Wasserkraft selbst bei einer totalen Dunkelflaute genügen. Die Jahreshöchstlast aber übersteigt in Deutschland regelmäßig 80.000 MW.
Deutschland könne seine Spitzenlast dann möglicherweise nicht mehr alleine decken, warnt Julius Ecke Energiemarkt-Experte bei enervis energy advisors. Zudem hätte dies steigende Stromkosten zur Folge: „Wir gehen davon aus, dass der Strompreis für Endverbraucher und stärker noch für die Industrie ansteigen würde, und zwar bis zu fünf Euro pro Megawattstunde“, so Ecke.
Gefallen dürfte das kaum jemandem. Existenzbedrohend aber könnte das für energieintensive Industrieunternehmen wie das Aluminiumwerk der Norsk Hydro im rheinischen Grevenbroich sein: Die fast 2.000 Mitarbeitende verarbeiten jährlich mehr als eine halbe Million Tonnen des leichten Metalls zu Folien, Druckplatten, Aluminiumband, Getränkedeckeln sowie Produkten für die Automobil- und Bauindustrie. Außerdem verfügt der Standort über eine Gießerei für hochreines Aluminium. Es schmilzt bei 660 Grad Celsius, und dafür wird viel Energie benötigt.
Genau deshalb wurde das Aluminiumwerk 1922 in der Nähe eines Kraftwerks angesiedelt. „Wir stehen im internationalen Wettbewerb und können uns Produktionsausfälle nicht leisten“, erklärt Volker Backs, Geschäftsführer bei der Hydro Aluminium Deutschland GmbH. „Wir sind auf Strom angewiesen, auch dann, wenn die Windkraftanlagen nicht produzieren.“
Wir bewegen uns hier in Richtung eines zunehmend administrierten Stromsystems, geraten tendenziell in Konflikt mit dem Europäischen Binnenmarkt und werden diese Art von Regulierung spätestens dann weiterentwickeln müssen, wenn sich Stilllegungen aus Altersgründen nicht mehr vermeiden lassen und Kraftwerksneuinvestitionen nötig sind. Dietmar Lindberger, EWI, Universität zu Köln
Die Bundesnetzagentur wirkt der Unterkapazität durch Stilllegungsverbote entgegen. Allerdings sei diese Politik nicht mehr lange durchzuhalten, sagt der Ökonom Dietmar Lindenberger vom Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) an der Universität zu Köln in einem Interview mit dem Fachmagazin „Energiewirtschaftliche Tagesfragen“: „Wir bewegen uns hier in Richtung eines zunehmend administrierten Stromsystems, geraten tendenziell in Konflikt mit dem Europäischen Binnenmarkt und werden diese Art von Regulierung spätestens dann weiterentwickeln müssen, wenn sich Stilllegungen aus Altersgründen nicht mehr vermeiden lassen und Kraftwerksneuinvestitionen nötig sind.“
Denn, sagt Lindenberger, nach wie vor gelte: „Strom aus Sonne und Wind ersetzt zwar Brennstoff, aber kaum Kraftwerke zur gesicherten Spitzendeckung.“
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