Je höher der Anteil Erneuerbarer Energien an der Stromversorgung wird, desto wichtiger scheint die Frage: Was passiert in Zeiten, in denen der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint? Forscher der Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut treibt unterdessen die entgegengesetzte Situation um. Sie beschäftigen sich damit, was passiert, wenn Windräder und Solaranlagen mehr Strom produzieren, als benötigt wird. Zusammen mit Dhybrid, einem Unternehmen im Bereich Systemsteuerung im Energiesektor, und dem Automatisierungsspezialisten Conpower entwickeln die Forscher einen Algorithmus, der Last- und Erzeugungsspitzen nicht nur vorhersagen soll.
Die Software soll so aufgebaut sein, dass sie zunächst in lokalen Netzen zum Einsatz kommen kann. Aber auch eine Nutzung in den großen Übertragungsnetzen ist denkbar. Das Programm nutzt besonders große Datenmengen und bietet so flexible Anwendungsmöglichkeiten. Damit sind die Forschenden in der Branche bereits auf das Interesse der ersten Anbieter gestoßen. Die für das Projekt iGrid Control verantwortliche Projektleiterin Prof. Dr. Mona Riemenschneider und Projektmitarbeiter und Energieexperte Seyid Arikan erklären, wie ihr Ansatz funktioniert:
Alle sprechen davon, den Anteil Erneuerbarer Energien in der Stromversorgung zu erhöhen. Und trotzdem produzieren Windkraft- und Solaranlagen manchmal schon mehr Strom, als benötigt wird. Wie kann das passieren?
Im Rahmen der Energiewende soll sich der Anteil der Erneuerbaren Energien immer weiter erhöhen. Und die Grundlagen dafür sind schon vorhanden: Es gibt viele Solaranlagen, Windkraftanlagen und Biomassekraftwerke. Ein großes Problem ist aber, dass der Strom aus den Anlagen bisher nicht gut genug verteilt werden kann. Denn die Stromnetze sind nicht gut genug ausgebaut, sie hinken sozusagen hinterher.
Was bedeutet das genau?
Windkraft- und Photovoltaikanlagen produzieren im Moment zeitweise mehr Strom, als die Netze aufnehmen und verteilen können. Und wenn die Netze überlastet sind, kann es passieren, dass die Anlagen heruntergefahren oder abgeschaltet werden müssen – manchmal sogar mehrfach am Tag.
Solaranlagen produzieren zum Beispiel mittags extrem viel Energie. Das führt dazu, dass regional mehr produziert wird, als transportiert werden kann. Der Strom kann dann nicht abgenommen werden und ist somit verloren. Wir möchten versuchen, diese Netzverluste zu reduzieren, indem wir Erzeugungsspitzen vermeiden.
Sie möchten in Ihrem Projekt die Netzsteuerung unabhängig vom Netzausbau verbessern. Wie funktioniert das?
Gutes Management ist im Stromnetz von größter Bedeutung. Die Stromerzeugung aus regenerativen Quellen schwankt und die Kapazität von Energiespeichern ist noch sehr begrenzt. Deshalb entwickeln wir einen Algorithmus, der Erzeugungsanlagen und Stromspeicher intelligent miteinander verknüpft. Dazu setzen wir ein System ein, dass große Datenmengen, sogenannte Big Data, auswertet. Es vergleicht innerhalb kürzester Zeit unzählige Parameter wie Erzeugungsdaten oder Wettervorhersagen. Der Algorithmus ermittelt dann frühzeitig, wann zum Beispiel besonders viel Solarenergie produziert werden wird. Und er kann steuern, dass dann genug Speicherkapazität zur Verfügung steht, indem der Batteriespeicher zum Beispiel bereits nachts den gespeicherten Strom ins Netz einspeisen lässt.
Zusätzlich setzen wir auf maschinelles Lernen. Das bedeutet, dass sich das System selbstständig immer weiterentwickelt. Mit jedem neuen Datensatz verbessert es seine Performance. So kann es auch auf Veränderungen reagieren, etwa wenn eine neue EE-Anlage ans Netz geht.
Wie weit sind Sie dabei schon gekommen?
Das Projekt ist im September 2020 gestartet. Inzwischen haben wir die erste Phase abgeschlossen. Dabei haben wir sozusagen den „Ist-Zustand“ der Netze analysiert. Das heißt, dass wir historische Erzeugungsdaten betrachtet haben und daraus nun verschiedene Szenarien ableiten. In den nächsten Schritten werden wir auf dieser Basis den Algorithmus entwickeln. Der arbeitet dann natürlich mit Echtzeitdaten.
Soll der Algorithmus denn so aufgebaut sein, dass er direkt in kommerziellen Anwendungen genutzt werden kann oder ist das eher noch Zukunftsmusik?
Der Algorithmus wird potenziell in allen Netzen anwendbar sein – sowohl in regionalen Verteilnetzen als auch später in den großen Übertragungsnetzen. Das ist möglich, weil er adaptiv ist. Er passt sich also automatisch an – zum Beispiel, wenn der Anteil Erneuerbarer Energien in einem Netz größer ist als in einem anderen.
Wo ist der Einsatz denn besonders sinnvoll?
Im Prinzip überall dort, wo der Anteil der Erneuerbaren Energien im Strommix besonders groß ist, und die Erzeugung schwankt, zum Beispiel durch Solarparks. Dies ist etwa in einigen Gemeinden im Allgäu der Fall. Sie sind von der Landwirtschaft geprägt und auf vielen Scheunen sind große Photovoltaikanlagen installiert, die ans Stromnetz angeschlossen sind.
Um wie viel könnten die Netzverluste in solchen Regionen mit dem Algorithmus sinken?
Unser Ziel ist es, bis zum Ende des Projekts im März 2022 die Netzverluste um zehn Prozent zu reduzieren. Und ich bin überzeugt, dass wir diesen Wert in einigen Netzen sicherlich noch übertreffen werden.
Wäre die naheliegendere Lösung nicht, die Netze weiter auszubauen. Welche Vorteile bietet ihr Ansatz?
Langfristig müssen die Netze weiter ausgebaut werden, das steht fest. Doch das ist sehr teuer und wird noch einige Jahre dauern. In der Zwischenzeit kann unser Algorithmus Abhilfe schaffen. Wir hoffen sogar, dass wir durch die optimierte Steuerung dazu beitragen können, dass der Ausbau gar nicht in einem so großen Umfang notwendig wird wie bisher angenommen.
Außerdem drängt die Zeit: Ökostrom muss abgenommen werden – sonst muss die Bundesnetzagentur Entschädigungszahlungen leisten. Dadurch entstehen schon jetzt Kosten in Höhe von über einer Milliarde Euro, die am Ende der Verbraucher mitträgt.
Bildnachweis: © zhengzaishuru, shutterstock