Um wie viele Gigawatt wächst Europas Windkraftkapazität in den nächsten fünf Jahren: A) 88 B) 112 oder C) 67? Es ist kein Quiz, das der Branchenverband WindEurope spielt. Es sind die drei Szenarien, mit denen die Autoren des „Wind Energy in Europe: Outlook to 2023“ die nächsten fünf Jahre prognostizieren.
Die Bandbreite der Schätzungen spiegelt gewissermaßen die Verunsicherung wider, mit der Europas Windkraftbranche in die Zukunft blickt: 36 bis 60 Prozent Wachstum seien drin, das ist ein breites Spektrum. Zum Vergleich: Die Internationale Energieagentur (IEA) rechnet in ihrem „Renewables Outlook 2019“ zwischen 2019 und 2024 mit einem weltweiten Wachstum der Windkraft-Kapazität von 62,4 oder 76,3 Prozent.
Die IEA gibt sich nicht nur sicherer bei der Prognose, sondern auch optimistischer, was die Zukunft der europäischen Windkraft angeht: „Der Ausbau nimmt Fahrt auf in der Europäischen Union und der Wettbewerb um die Ausschreibungen wird die Kosten relativ niedrig halten.“
Tatsächlich rechnet auch die WindEurope mit Ausschreibungen für bis zu 65 Gigawatt (GW) Windkraft in den nächsten fünf Jahren. Jeweils die Hälfte davon fordern Windkraftanlagen und erneuerbare Energiequellen allgemein. Dennoch ist man in Brüssel skeptischer als bei der IEA in Paris: „Überall in Europa werden die Genehmigungen komplexer und teurer, weil Land knapper wird und die Zahl der Klagen steigt.“
Besonders deutlich trete dies in Deutschland zu Tage. Die sinkende Zahl der Genehmigungen habe hier dazu geführt, dass es bei keiner der fünf Windkraft-Ausschreibungen, die seit Mai 2018 stattgefunden haben, genug Leistung angeboten wurde: Lediglich 1.493 Megawatt (MW) der ausgeschriebenen 3.170 MW wurden nach Angaben von WindEurope versteigert.
Aber auch in anderen Ländern würden Genehmigungsverfahren tendenziell schwieriger. In Frankreich zum Beispiel vermissen die Autoren eine zuständige Behörde, obwohl sich das Land wie Irland und Portugal zuletzt ambitionierter gezeigt habe.
Dies gilt auch für die Niederlande, die bisher – gemessen vor allem an ihrem Potenzial – ein eher verhaltenes Interesse an Windkraft gezeigt haben. Mehr Windkraftkapazität werde in der fraglichen Periode nur das Vereinigten Königreich zubauen, heißt es. Deutschland werde trotz des stark verminderten Tempos noch auf Rang liegen und in der Summe auch 2023 noch die größte Windkraftkapazität aufweisen – vor Spanien und dem Vereinten Königreich.
Langwierige Genehmigungsverfahren verlangsamen den Ausbau der Windkraft nach WindEurope-Lesart auf mindestens zwei Ebenen: direkt, weil eben der Bau später beginnen kann als geplant, und indirekt, weil sie – wie bei den nicht-ausgeschöpften Ausschreibungen in Deutschland zu sehen – Investoren abschrecken, und das nicht nur weil gerichtliche Auseinandersetzungen Geld kosten und die Einnahmen aus dem Stromverkauf später beginnen.
„Die Ungewissheit lastet schwer auf der Lieferkette und bedroht die erheblichen Kostenreduktionen der letzten Jahre“, heißt es im Markausblick der WindEurope: Die Entwicklungskosten der Projekte würden unwillkürlich steigen, wenn immer wieder Zeitpläne umgestoßen werden und Personal und Maschinen unproduktiv auf ihren Einsatz warten. Zudem verlangten Banken bei steigenden Risiken Sicherheitszuschläge für Kredite. Diese Beobachtung gelten für neue Anlagen wie für Bestandsanlagen, deren Betriebsdauer durch „Repowering“, also durch Aufstockung der Leistung, verlängert werden soll.
Den Plänen nach könnte 2019 dennoch ein Rekordjahr für die europäische Windkraftbranche werden: Spanien, Schweden und Norwegen wollen zusammen allein 4,8 GW an Land installieren. Dass bis zur Jahresmitte erst Bruchteile davon am Netz waren, besorgt die Autoren weniger, weil die Bauarbeiten erst in den Sommermonaten richtig Fahrt aufnehmen. Die deutsche Onshore-Branche allerdings wird wohl ihr bisher schlechtestes Jahr in diesem Jahrhundert erleben.
Einen Rekord verzeichnete dagegen die europäische Offshore-Windkraft im ersten Halbjahr 2019: Das Vereinigte Königreich, Belgien, Dänemark und Deutschland brachten zwischen Januar und Juni 1,9 GW ans Netz.
Am Ende, schätzen die WindEurope-Analysten in ihrem zentralen Szenario, werde es 2019 nicht mehr für einen Rekord reichen: 16,8 GW zusätzliche Windkraftkapazität – das wären 0,3 GW weniger als 2017, aber satte 44 Prozent mehr als 2018, das schwächste Jahr seit 2011.
Doch trotz aller Unsicherheiten sieht WindEurope Europas Windkraft im Auftrieb – mit 13 oder 18 oder 22 GW zusätzlicher Erzeugungskapazität in jedem der fünf Jahren.